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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerDer Tod von Lic. Emil Bock, dem früheren Leiter der Christengemeinschaft, weckt noch einmal die Erinnerung an die Gespräche, die wir im Jahre 1949 mit Vertretern der Christengemeinschaft, unter ihnen Emil Bock, geführt haben. Wir waren ihm dankbar, daß er zu diesem Gespräch bereit war und daß dieses Gespräch in einer guten Atmosphäre geführt werden konnte. Die Schwierigkeiten, die weniger in bestimmten Meinungsverschiedenheiten als in einer verschiedenen Art des Denkens wurzeln, konnten freilich weder verborgen bleiben, noch wirklich überwunden werden. Doch ist es nicht die Schuld der damaligen Gesprächspartner, wenn hernach in der Öffentlichkeit der Evangelischen Kirche bestimmte kritische Absagen sehr viel bekannter wurden und ein größeres Gewicht bekamen als die Fragen, die nach unserer Überzeugung von einem solchen Gespräch her an die Evangelische Kirche selbst zu stellen sind. Vielleicht erweist mancher Leser unserer Blätter dem Verstorbenen die Ehre, noch einmal den Schlußbericht unserer „Kommission für Kirche und Anthroposophie” nachzulesen (Jahrgang 1948/49 der Evangel. Jahresbriefe, S. 172 ff.) und die Fragen zu bedenken, die dort zutage getreten sind. Darüber hinaus wird niemand die Bücher von Emil Bock, vor allem sein siebenbändiges Hauptwerk „Beiträge zur Geistesgeschichte der Menschheit” aus der Hand legen, ohne reiche Belehrung und Anregung zu empfangen und manches in einem ungewohnten, neuen Licht zu sehen. Wenn dabei ebenso wie bei den Gesprächen auch vielfältig Kritik laut werden muß, so sollte sich dadurch niemand davon abhalten lassen, auch von einem Mann wie Emil Bock zu lernen, was bei ihm zu lernen ist.

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LeerKürzlich hatte ich über das aufregende Wort Jesu zu predigen, das uns in Matth. 10, 37 und in einer noch schrofferen Form Luk. 14, 26 überliefert ist, diesen Aufruf zu einer radikalen Entscheidung, diese unüberhörbare Warnung vor jedem Vorbehalt und jeder Halbheit. Als ich mich anschickte, die Lieder für diesen Gottesdienst zu wählen, kam mir in erster Linie jenes Lied von Gerhard Tersteegen in den Sinn, das wir in früheren Jahren oft und gern gesungen haben: „Nun, so will ich denn mein Leben völlig meinem Gott ergeben”, ein Lied, das zweifellos als eine Antwort auf jenen Kriegsruf des Herrn verstanden werden kann. Aber ich entdeckte, daß dieses Lied im Evangelischen Kirchengesangbuch (und damit auch im neuen bayerischen Gesangbuch, auch in seinem bayerischen Anhang) nicht mehr enthalten ist, und ich machte mir Gedanken darüber, warum dieses Lied ausgeschieden worden ist. Gerhard Tersteegen hat das gewiß ganz ehrlich gemeint, wenn er sagt: „Endlich sei der Schluß gemacht, meinen Willen ganz zu geben, meinem Gott allein zu leben, ihm zu dienen Tag und Nacht”; „Herr, ich opfre Dir zur Gabe all mein Liebstes, das ich habe; schau, ich halte nichts zurück”; „Eines will ich nur betrachten und nicht wissen noch drauf achten, was sonst draußen mag geschehn.” Und es sollte nicht bezweifelt werden, daß es solche radikale Entscheidungen zu völliger Hingabe in der Geschichte der Frömmigkeit gegeben hat und auch heute gibt. Aber muß nicht ein solches Lied, von einer großen Gemeinde gesungen, fast unvermeidlich die Zahl der großen Worte vermehren, die selbst in dem Augenblick, wo sie gesungen werden, nicht ganz ernst gemeint sind und die Gemeinde also zu einem übersteigerten Pathos verführen? Können wir das, und wollen wir es wirklich, was der fromme Dichter hier ausspricht? Und dürfen wir das in unsrem Lied vor Gott bringen, was bei uns selber eben doch nicht in Wahrheit „geschehen” ist? - Wir haben dann statt dessen gesungen „Mir nach, spricht Christus, unser Held”, und ich habe auch in der Predigt etwas darüber gesagt, warum wohl jenes andere Lied in unseren Gesangbüchern nicht mehr zu finden ist. Auf dem Heimweg sprach ich mit einem meiner Predigthörer über diese Frage, und er machte dazu eine sehr treffende Bemerkung: In dem Lied von Gerhard Tersteegen ist es der Mensch selber, der sich eine solche radikale Entscheidung zumutet und zutraut: „Ich will”, „Ich werde”; in dem anderen Lied aber ist es Christus, der zu entschlossener Nachfolge aufruft und denen, die zu einer solchen ungeteilten Hingabe nicht die Kraft und das Vermögen in sich finden, seinen Beistand verheißt: „Fällt's euch zu schwer, ich geh voran, ich steh euch an der Seiten.” Das sei der Unterschied. Vermutlich hat Eduard Thurneysen genau diesen Unterschied im Auge gehabt, wenn er in seinem Buch über Seelsorge (München 1948, S. 63ff.) es als eine Gefahr der „pietistischen” Seelsorge beschreibt, daß sie auf die eigenen inneren Vorgänge, Erlebnisse und Entschlüsse des einzelnen Christen blickt, während die „lutherische” Seelsorge den Menschen dazu anleitet, von sich selber wegzusehen und ganz auf das Vorbild des Herrn zu schauen, auf sein Wort und seine Verheißung zu trauen.

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LeerIn dem Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg hat Oberkirchenrat Prälat D. W. Metzger vorgeschlagen, den Gedenktag der Reformation vom 31. Oktober auf den 1. November zu verlegen. Dieser Gedanke ist nicht so abwegig, wie er manchem zunächst erscheinen mag: Zunächst ist es rein historisch zweifelhaft, ob der Thesenanschlag, der die Reformation in Gang gebracht hat, wirklich am 31. Oktober erfolgte. Luther selber spricht wiederholt vom Allerheiligentage. Aber auch der Abend des 31. Oktober würde nach kirchlicher Regel zum Fest des folgenden Tages gehören. Bei Verlegung auf den 1. November würde der leidige Streit um die gesetzliche Anerkennung beider Feiertage in der einfachsten Weise behoben werden. Schwerer wiegt noch, daß wir dann das Gedächtnis Martin Luthers und seines Werkes aus seiner gefährlichen Isolierung befreien und im Zusammenhang der Kirchengeschichte, unter der Wolke aller Zeugen des Evangeliums begehen würden. Man sollte eifrig sein, in Gesprächen den Boden für diese Änderung zu bereiten.

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LeerEiner der Abende, an denen ich im Fernsehen das „Wort zum Sonntag” zu sprechen hatte, traf auf den 31. Oktober. Es war mir selbstverständlich, daß ich dabei den Gedenktag der Reformation nicht übergehen konnte und also auch den römischkatholischen Hörern zumuten mußte, in irgendeiner Weise an dieser Erinnerung teilzunehmen. Ich begründete das damit, daß keine Meinungsverschiedenheit so tief entzweien könne wie der Entschluß, um dieser Verschiedenheiten willen überhaupt nicht mehr miteinander zu reden, sondern einander aus dem Wege zu gehen; ich sprach davon, daß wir nicht mehr in einem Ton der Selbstsicherheit von dieser Spaltung der Christenheit reden und ebensowenig bloß dem anderen Teil die Schuld an dieser leidvollen Trennung beimessen könnten, daß wir aber in den zwischen uns strittigen Fragen in ganzem Ernst miteinander sprechen und einander vielleicht auch harte Dinge sagen müßten. Ob es in dieser notvollen und schuldhaften Lage eine Hoffnung auf Einheit geben könne? Nein, wenn wir an all die gutgemeinten menschlichen Bemühungen denken, weil es eben kein Zurück, darum auch keine „Rückkehr” zur ungeteilten Kirche geben könne; und doch ja, weil Gott größer ist als unser Herz, und weil der Heilige Geist ein Feuer ist, in dem das Erstarrte aufgeschmolzen wird; wenn Gott will, daß das Gebet seines Sohnes um die Einigkeit seiner Jünger in Erfüllung geht, so wird Er Wege finden, auf denen er uns zusammenzwingt, wenn es sein muß in Zeiten der Not und der Drangsal. - Darauf habe ich eine Fülle von Zuschriften bekommen, mit einer einzigen Ausnahme entschieden und zum Teil geradezu leidenschaftlich zustimmend -, aber fast ausschließlich von katholischer Seite. Ich kann mich dem Eindruck nicht entziehen, daß die Tatsache der Spaltung der Christenheit dort stärker als eine schmerzende Wunde empfunden und erlitten und intensiver um die Einheit der Christenheit gebetet wird, so daß ein solches Wort zum Gedenktag der Reformation dort ein stärkeres Echo weckt als bei uns. Und ich finde, daß dieses traurig und bedenklich ist.

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LeerDaß es neben dem Tierschutzverein einen Verband zum Schutz der Menschenwürde geben müßte, ist keine neue Erfindung von mir; das haben schon viele Leute gesagt, denen es einfach angst ist bei der Beobachtung, daß ein gewisser Restbestand von Ehrfurcht vor der Kreatur als solcher, vielleicht mit ein bißchen Sentimentalität vermischt, sich des hilflosen Tieres erbarmt, daß aber der Mensch in ganz anderem Maß in der ihm verliehenen Würde bedroht, ja dem Angriff preisgegeben ist. Man kann freilich keine Geschäfte damit machen, wenn man Tiere schlecht behandelt; aber es ist ein sehr einträgliches Geschäft, wenn man wie ein Jagdhund im Privatleben seiner Mitmenschen schnüffelt und dem Publikum als immer willkommenes Sensationsfutter hinwirft, was keinen Menschen etwas angeht. Die angeblich bedrohte Pressefreiheit wird schon dafür sorgen, daß bei dem geplanten Gesetz zum Schutz der persönlichen Ehre nichts herauskommt, was einen wirklichen Schutz bedeuten könnte. Vielleicht wäre es ungerecht, den Presseleuten den Hauptvorwurf zu machen. Sie können zu ihrer (freilich fragwürdigen) Entschuldigung sagen, daß sie eben jene Indiskretionen und Skandalgeschichten liefern müßten, nach denen das sensationslüsterne Publikum verlangt, und es würde sich also immer noch rentieren, selbst wenn sie einmal eine mäßige Strafe zahlen müßten. Aber vielleicht ist das andere noch schlimmer, wenn fragwürdige Existenzen ihre ebenso fragwürdigen Memoiren für teures Geld verkaufen und also zeigen, daß ihnen der schäbige Profit wichtiger ist als der Restbestand von Ehre und Würde, der ihnen wenigstens Schweigen abverlangen würde. Aber die Nachtseiten des Lebens und die Schlammgründe menschlicher Existenz scheinen eben für sehr viele Menschen eine größere Anziehungskraft zu haben als alles, was mit der wahren Würde des Menschen zu tun hat. Man sagt „ecce homo”und deutet mit den Fingern auf die verkommenen Zerrbilder des Menschen. Solange dieser schlechte Geschmack herrscht, wird kein Gesetz etwas wirksam schützenkönnen, was für das allgemeine Bewußtsein vogelfrei ist.

Quatember 1960, S. 93-95

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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