Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1960
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerIn meiner Jugend galt es als eine ziemliche Schande „sitzen zu bleiben”, das heißt eine Klasse in der Schule wiederholen zu müssen; vielleicht war es auch in den meisten Fällen ein Zeichen für mangelnde Begabung oder mangelnden Fleiß, grob gesagt für Dummheit oder Faulheit oder beides zugleich. Heute mehren sich die Fälle, wo solches Versagen auf ernste Entwicklungsstörungen oder zeitbedingte Schädigungen zurückzuführen ist und wo es also sehr zweckmäßig und förderlich sein kann, eine Klasse zu wiederholen und also sogar freiwillig „sitzen zu bleiben”. Es ist nicht immer eine Schande, „sitzen zu bleiben”.

LeerSpäter dachten wir bei diesem Ausdruck weniger an die Schule als an den Tanzsaal und hatten wohl einiges Mitleid mit den Mädchen - wir redeten damals noch nicht so viel von „Damen” -, die nicht so oft wie andere zum Tanz aufgefordert wurden und also eben „sitzen blieben”, wenn die anderen sich dem Tanzvergnügen hingaben, und wir überlegten, ob das wohl eine Vorbereitung auf das Schicksal bedeutete, daß sie schließlich keinen Mann kriegten und in diesem Sinn „sitzen blieben”. Aber noch etwas später kamen wir dahinter, daß dieses Schicksal keineswegs immer auf einem Mangel an Anmut und anderen weiblichen Vorzügen beruht, sondern oft nur ein Zeichen für den schlechten Geschmack der Männer ist, die nicht fähig waren oder sind, äußeren Reiz und inneren Wert zu unterscheiden. Es ist nicht immer eine Schande „sitzen zu bleiben”.

LeerEs gibt aber Anlässe, wo man in einer sehr verantwortlichen Weise durch Aufstehen seine Zustimmung, durch Sitzenbleiben seine Ablehnung bekunden muß. Es gehört unter Umständen einiger Mut dazu sitzen zu bleiben, wenn alle anderen aufstehen, und wir alle entsinnen uns wohl jener bösen Stunden, wo wir zu feige waren, um durch Sitzenbleiben zu zeigen, daß wir von einem allgemeinen Rausch oder besser gesagt einem allgemeinen Wahnsinn nicht auch ergriffen waren. Aber das Sitzenbleiben ist nicht immer ein Zeichen des selbständigen Denkens und des Bekennermutes; es gibt in Synoden und wohl auch in weltlichen Versammlungen Situationen, wo einem Mann um seines untadeligen Charakters und um eines ganz persönlichen Bekenntnissen willen die allgemeine Ehrerbietung nicht versagt werden dürfte, und wo dann, wenn alle diese Ehrerbietung bezeugen, indem sie sich erheben, das Sitzenbleiben kein Zeichen von Mut, sondern nur von mangelndem Takt ist, jedenfalls ein Zeichen, daß die Betreffenden geneigt sind, theologische Rechthaberei und politische Leidenschaft dem Gebot des Herzens und des menschlichen Miteinander überzuordnen.

LeerWenn man solche Berichte liest, denkt man an seine Kinderjahre, wo „Sitzenbleiben” noch als Schande galt.


*

LeerAls ich wieder einmal in Münster in Westfalen, wo ich so lange Jahre gelebt und doziert habe, zu predigen hatte, fand ich unter den „Abkündigungen”, die ich zu verlesen hatte, den Hinweis auf einen Vortrag im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit”. Wie jedermann weiß, handelt es sich bei diesen Wochen um das Verhältnis von uns Christen zu dem Volk Israel und also um ein Bekenntnis der Buße für eine unerhörte Schuld, die wir mit unserem ganzen Volk auf uns geladen haben. Ich konnte mich aber kaum enthalten hinzuzufügen, daß wir es nicht nur in dieser einen Beziehung an brüderlichem Verhalten haben fehlen lassen, und daß es also wohl angebracht wäre, wenn wir einmal mit Bezug auf unsere eigene Kirche eine Woche der Brüderlichkeit veranstalten wollten; nicht als Ausgleich für 51 Wochen der Unbrüderlichkeit, sondern als eine Erinnerung und Mahnung daran, daß die christliche Kirche als eine Gemeinschaft von Brüdern gestiftet worden ist, und also zugleich als eine Warnung vor jenen pseudadelphoi (2. Kor. 11, 26), den falschen Brüdern, die freigebiger sind mit brüderlicher Anrede als mit brüderlicher Gesinnung und brüderlichem Verhalten.

LeerDie Erinnerung an eine sehr eigentümliche Situation stieg dabei in mir auf. Wir waren auf einer ökumenischen Tagung zu Gast in einer katholischen Kirche, und weil es sich dabei um das Gedächtnis eines von uns allen verehrten katholischen Priesters handelte, wurde jener „Bruderkuß”, jene urchristliche Gebärde der brüderlichen Verbundenheit und Verpflichtung, die sonst nur zwischen den am Altar dienenden Priestern und ihren Gehilfen ausgetauscht wird, durch die ganze Kirche hindurch an alle Anwesenden weitergegeben; eine Gebärde, nicht eigentlich der „Liebe”, aber der mit Achtung und Abstand verbundenen Zuwendung und Zuneigung. Es traf sich, daß neben mir, in der gleichen Reihe, ein Mann stand, mit dem ich manchen theologischen Disput ausgefochten hatte und von dem ich wohl wußte, daß ich ihm ebenso wenig sympathisch war wie er mir. Einen Augenblick zögerte ich; sollte ich mich dieser etwas merkwürdigen Situation entziehen? Sollte ich unter irgendeinem Vorwand die Kirche verlassen; oder sollte ich so tun, als hätte ich nicht verstanden, daß diese Gebärde weitergetragen werden und also die Kette nicht abreißen sollte? Nur für einen Augenblick huschten mir solche Gedanken durch den Sinn; aber rasch verstand ich, daß diese Gebärde brüderlicher Gesinnung ja nicht so sehr der Ausdruck subjektiver Empfindungen oder Gefühle, sondern vielmehr der Ausdruck einer verpflichtenden Situation ist, in der wir als Christenmenschen gemeinsam stehen. Leise lächelnd tauschten wir miteinander das philema hagion, den „heiligen Kuß” (Röm. 16,16). Ich glaube nicht, daß ich mich täusche, wenn ich den Eindruck habe, daß wir hernach etwas freundlicher, gütiger und geduldiger miteinander umgegangen sind als vorher.


*

LeerIn einer Predigt über 1.Thess.4, 1-7 hatte ich darauf hingewiesen, daß die Mahnung des Apostels zur Heiligung unter anderem auch dieses in sich schließt, „daß niemand zu weit greife”, und hatte davon gesprochen, daß es immer eine Verletzung des menschlichen Maßes ist, wenn jemand zu weit greift, einbricht in den Lebensraum des anderen und damit die uns durch die Liebe gezogenen Grenzen des Abstandes verletzt. Eine Hörerin dieser Predigt fragt mich, ob nicht jede evangelische Einzelbeichte dann auch unter diesem Urteil stehe, da sie „in den intimen Raum des anderen Menschen eingreift”. Ja, ist nicht dies geradezu der Sinn dieser Beichte, damit so der Seelsorger dem Beichtenden in seinen inneren Kämpfen zurechthelfen kann? Ich mußte der Briefschreiberin in dieser Sorge recht geben. „Eben darum habe ich in sehr vielen Fällen Menschen von einer Einzelbeichte abgehalten, wenn ich den Eindruck hatte, daß ein solches ‚Zunahetreten’ sich vermeiden ließ. Auf der anderen Seite scheint es mir mit der Einzelbeichte ähnlich zu sein wie mit der körperlichen Untersuchung durch den Arzt oder einem chirurgischen Eingriff. Dies ist ja in eminentem Sinn ein Einbruch in den Lebensraum des anderen Menschen; aber da, wo es die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit fordert, muß eben dieser Einbruch gewagt werden, und die Sachlichkeit, mit der der Arzt seinen Patienten leiblich untersucht oder seine inneren Organe bloßlegt, ist ein guter Schutz gegen die Gefahr, daß ein solcher Einbruch wirklich eine Aufdringlichkeit oder Zudringlichkeit darstellen könnte. Die objektive Gestalt der Einzelbeichte, der gottesdienstliche Raum und das liturgische Gewand des Beichtigers sind ein starker Schutz gegen die Gefahren eines solchen Eingriffs und unterscheiden eine solche Beichte sehr wesentlich von einem allgemeinen Gespräch, in dem die Gefahr der Verletzung des Abstandes und der notwendigen Keuschheit viel größer ist, zumal wenn jemand mit einer eilfertigen Geschwätzigkeit von seinen inneren Nöten zu reden geneigt ist. Ich würde Ihnen also durchaus recht geben, wenn Sie die Beichte unter diesem Gesichtspunkt betrachten; nur scheint mir dies kein Argument gegen den Gebrauch der Einzelbeichte zu sein, die freilich gewiß nicht notwendig und noch weniger eine Verpflichtung ist, aber eine Möglichkeit, die angeboten wird, und von der in bestimmten Fällen zum inneren Heil Gebrauch gemacht werden muß. Gerade der Beichtiger wird sich ängstlich vor der Gefahr hüten, ‚zu weit zu greifen’ und in den Lebensraum des anderen einzubrechen, mehr als dies notwendig ist.” Quatember 1960, S. 142-144

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
Haftungsausschluss
TOP