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Vom Umgang mit der Heiligen Schrift
IV. Über den rechten „Umgang”
von Wilhelm Stählin

LeerErst an dieser Stelle, wo wir uns dem eigentlichen Thema dieser Aufsatzreihe zuwenden, wird deutlich, warum wir es nicht für richtig hielten, von einem falschen und einem rechten „Gebrauch” der Heiligen Schrift zu sprechen. Wir „gebrauchen” etwas, was uns gehört oder doch zu unserer Verfügung steht; wir gebrauchen es im Dienst unseres eigenen Lebens und halten es für durchaus natürlich, daß das, was wir gebrauchen, in diesem Gebrauch auch verbraucht wird. So zu reden wäre aber offenbar dem Verhältnis nicht gemäß, in dem wir zur Heiligen Schrift stehen; es würde der Ehrfurcht widersprechen, die uns dem heiligen Buch gegenüber geziemt, und es würde damit verleugnet, daß uns hier die Offenbarung Gottes als eine Wirklichkeit begegnet, die wir keinesfalls wie irgendeinen Gebrauchsgegenstand in den Dienst unseres eigenen Lebens ziehen oder gar einer rechthaberischen Polemik dienstbar machen können.

LeerDem Wort „Umgang”, das entschieden vorzuziehen ist, liegt ein leibhaftes Bild zugrunde. Es ist eine uralte Sitte, daß zur Bekräftigung eines Vertrages oder einer religiösen Verpflichtung eine heilige Stätte umschritten wurde. Bei Prozessionen, Einweihungen und dergleichen wird auch heute der feierliche Umzug (ambitus) um die Kirche, um den Friedhof, um den Altar vollzogen. Die in vielen unserer Gemeinden noch heute bestehende Sitte, daß bei der Feier des Abendmahls die Teilnehmer auf der einen Seite des Altars das Brot empfangen, dann um den Altar herumgehen und darnach auf der anderen Seite den Kelch sich reichen lassen, ist nicht aus praktischen Gründen zu erklären (was wäre daran „praktisch”?), sondern es ist ein kaum mehr verständlicher Restbestand dieses kultischen „Umgangs”.

LeerIn übertragenem Sinn meinen wir, wenn wir vom Umgang mit einem Ding oder einem Menschen reden, eine intensive und dauernde Beschäftigung mit diesem Partner, wobei es notwendig ist, sorgfältig auf das Wesen und das innere Gesetz dieses Partners zu achten. Man kann auch mit Dingen liebevoll und sorgfältig oder schlampig und leichtsinnig umgehen. Der gute Gärtner zeigt sich darin, daß er mit Bäumen, mit Blumen wirklich „umgehen” kann; und vielleicht wird man erst später ganz ermessen, welche Tragweite es hat, daß die auf dem Lande heranwachsende Jugend heute eher lernt mit Traktoren umzugehen als mit lebendigem Getier, mit Pferden, Ochsen und Kühen. An solchen Vergleichen mögen wir uns vergegenwärtigen, in welchem Sinn wir die Frage nach dem rechten Umgang mit der Heiligen Schrift stellen.

Leer1. Solange wir von der Heiligen Schrift als dem Buch der Christenheit reden, sollte schon diese Ausdrucksweise dazu verpflichten, diesem Buch nur mit dem höchsten Maß von Ehrfurcht zu begegnen. Es-mag aus technischen Gründen notwendig sein, möglichst billige und handliche Ausgaben der Bibel zur Verfügung zu stellen; aber Papier, Druck und Einband dieser billigen Ausgaben verführen nur allzuleicht dazu, sie ebenso respektlos zu behandeln und zu gebrauchen, wie wir das anderen billigen Büchern gegenüber gewohnt sind. Auf der anderen Seite darf sich der Respekt vor der Bibel gewiß nicht darin zeigen, daß sie wohlverwahrt in einem Kasten oder auf einem Bücherbrett ihren Ort hat und als Zeichen ihrer besonderen Würde deutliche Spuren des Nicht-Gebrauchs zeigt.

Leer2. Der Ursprung und eigentliche Maßstab für die Zugehörigkeit zum Kanon heiliger Schriften ist die gottesdienstliche Lesung. Viele Generationen haben die Bibel im wesentlichen nur aus der regelmäßigen Lesung biblischer Abschnitte in den sonntäglichen oder alltäglichen Gottesdiensten gekannt; eben darum hat die Reformation sich dagegen gewehrt, daß diese gottesdienstliche Schriftlesung in einer dem Volk fremden und unverständlichen Sprache geschah, und zu den entschiedensten Reformforderungen, auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche, gehört heute die Freigabe der Schriftlesung in der Volkssprache. Der Sinn dieser gottesdienstlichen Lesung ist aber nicht etwa nur die Belehrung des Volkes, sondern die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens. Da, wo der Apostel Paulus im 11. Kap. des 1. Briefes an die Korinther sich gegen bestimmte Mißbräuche bei der Feier des Heiligen Mahles wendet, begründet er den ganzen Ernst dieser seiner Warnung mit der Bemerkung: „So oft ihr von diesem Brote esset und von diesem Kelch trinket, verkündigt (proklamiert!) ihr den Tod des Herrn”; der Zusammenhang macht deutlich, daß dieses nicht eine Mahnung („ihr sollt verkündigen”), sondern eine Deutung des Geschehens ist; denn nur dann ist ganz verständlich, warum die unwürdige, nämlich respektlose Weise des Vollzugs die Teilnehmer zu Mitschuldigen an dem Tod des Herrn macht. Die ganze Schriftlesung ist also „Anamnese”, d. h. Gedächtnis, aber nicht im Sinne der historischen Rückerinnerung, sondern der wirksamen Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens. Es mag in sehr vielen Fällen einer Erläuterung bedürfen, damit die Gemeinde den Sinn dieser Schriftabschnitte, die ja zum Teil wirklich nicht ohne weiteres zu verstehen sind, richtig aufzunehmen vermag; aber grundsätzlich ist die Schriftlesung selbst ein vollgültiger Akt, der nicht erst durch eine nachfolgende Auslegung Sinn und Wert empfängt.

LeerDieser Sinn der gottesdienstlichen Lesung kann freilich durch die Druckgestalt der für den liturgischen Gebrauch bestimmten Bibel, und ebenso durch die Art, wie die liturgische Lesung vorgetragen wird, gefördert oder gehemmt werden. Es widerstreitet dem rechten „Umgang” mit der Heiligen Schrift, wenn auf dem Altar ein Prachtexemplar liegt, das viel zu unhandlich ist, als daß der Liturg ohne erhebliche Anstrengung es handhaben könnte, und wenn er statt dessen aus einer mitgebrachten Kleinbibel, einer „Taschenbibel” liest; eben um dieses Dilemma zu vermeiden, sollte die Bibel überhaupt nicht auf dem Altar, sondern auf einem Lesepult liegen, und sie sollte aus dem gleichen Grunde so eingerichtet sein, daß sie statt der grammatikalischen Interpunktion (oder zumindest neben ihr) jene Lesezeichen enthält, welche anzeigen, welche Satzteile auf einen Atem gelesen werden können und sollen. Freilich sollte auch in der unvermeidlichen Revision von Luthers Übersetzung seine bewußte Beachtung des Klangleibes bis hin zu der rhythmischen Bewegung der Sätze stärker beachtet werden, als das bei den meisten Revisionen, auch bei der letzten, geschehen zu sein scheint. Es ist beklagenswert, eine wie geringe Rolle dieser primäre Gebrauch der Heiligen Schrift in der gottesdienstlichen Lesung bei der Textgestalt, bei der Druckanordnung und der Ausstattung der Bibeldrucke gespielt hat.

LeerNicht minder freilich will das rechte Lesen gelernt und geübt sein. Jedes Pathos und jeder Versuch einer dramatischen Rezitation wirken hier überaus peinlich. Die noch von Luther gegebene Anweisung, die Schriftlesungen in einer festen musikalischen Form (den verschiedenen „Lektionstönen”) vorzutragen, will nicht etwa den Ernst und den Anspruch dieses Wortes durch musikalischen Reichtum vernebeln, sondern will diesen Vortrag durch strenge Bindung der Tonhöhe und seiner Variationen vor jeder subjektiven Willkür bewahren.

Leer3. Erst die Erfindung des Buchdrucks hat die Möglichkeit geschaffen, die Heilige Schrift, deren Abschriften bis dahin eine seltene Kostbarkeit hatten bleiben müssen, in vielen Exemplaren zu verbreiten und sie allen Gemeindegliedern, die danach Verlangen trugen, in die Hand zu geben. Daraus erwuchs auch für den einzelnen Christen die Möglichkeit und zugleich die Verpflichtung, auch in einer ganz persönlichen Weise den Umgang mit diesem Buch zu pflegen. Es sollte kein Zweifel darüber bestehen, daß die rein zahlenmäßige Verbreitung ein sehr trügerischer Maßstab für wirkliche Bibelkenntnis und für fruchtbaren Umgang mit der Bibel ist.

LeerWas gehört zu einem solchen richtigen, das heißt sachgemäßen Umgang mit der Heiligen Schrift?

LeerWir gehen von außen nach innen.

LeerEs ist heute für jeden, der den Willen dazu hat, durchaus möglich, eine Bibel zu besitzen, und man kann ja nur mit einem Buch, das man jederzeit zur Hand hat, einen regelmäßigen Umgang pflegen. Dabei ist aber ein gewisses Maß von Bibelkenntnis unerläßlich; auch wenn man nicht die Reihenfolge der biblischen Bücher des Alten und Neuen Testaments auswendig hersagen kann (was freilich jeder Konfirmand lernen sollte), muß man doch ein deutliche Vorstellung von der Gliederung dieser Sammlung haben und muß wissen, ob man irgend eine Stelle, die man zitiert gefunden hat, im Alten oder im Neuen Testament suchen soll. Bei einem kirchlichen Kurs für Lehrer innerhalb der anglikanischen Kirche wurde kürzlich festgestellt, daß etwa der dritte Teil der Anwesenden bei den ihnen vorgelegten biblischen Büchern nicht wußten, ob sie zum Alten oder zum Neuen Testament gehören. Es wird in anderen Gegenden der Welt und bei anderen Berufsständen nicht wesentlich anders aussehen.

LeerEin Mangel an elementarer Bibelkenntnis gilt in weiten Kreisen nicht als eine Bildungslücke, deren man sich zu schämen hätte. Das schulmäßige Wissen über die Reihenfolge und den Charakter der einzelnen biblischen Bücher soll gewiß nicht überschätzt, aber es darf als eine Voraussetzung für ein wirkliches Leben mit der Bibel auch nicht unterschätzt werden.

LeerVieles in der Bibel ist den meisten heutigen Menschen nicht ohne weiteres verständlich; dabei ist, wie ich glaube, die Fremdheit der Luthersprache viel weniger hinderlich, als die Fremdheit der Sache, von der die Bibel allenthalben redet. Wer die biblischen Ursprachen beherrscht oder wenigstens das Neue Testament im griechischen Text lesen kann und dabei auf den genauen Wortsinn zu achten geübt ist, wird vieles mit einem vertieften Verständnis lesen können. Für sehr viele andere wird sich der Gebrauch neuerer Übersetzungen, auch in andere moderne Sprachen, etwa französisch oder englisch, empfehlen. (Es ist nicht möglich, hier nebenbei die zahlreichen neuen deutschen Übersetzungen zu charakterisieren und ihre Vorzüge und Nachteile gegeneinander abzuwägen; aber auf die in jeder Hinsicht besonders gute „Zürich-Bibel” soll doch besonders hingewiesen werden.) Natürlich können sich die zahlreichen Einführungen und Erläuterungen zu den biblischen Büchern als eine gute Hilfe zum besseren Verständnis erweisen. In aller Bescheidenheit darf ich darauf hinweisen, daß auch meine „Predigthilfen”, obwohl zunächst für Pfarrer geschrieben, auch von verhältnismäßig vielen Nicht-Pfarrern als eine solche Hilfe empfunden und gebraucht werden.

LeerAber wichtiger als solche literarischen Hilfsmittel ist die eigene rechte Haltung im Umgang mit der Heiligen Schrift. Wenn der Apostel (2. Tim. 3, 16) sagt, daß alle von dem Geist Gottes durchwehte Schrift nütze sei „zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Erziehung”, so ist es offenbar das vordringlichste Erfordernis eines rechten Umgangs mit der Heiligen Schrift, daß der Hörende oder Lesende bereit ist, diesen Dienst an sich geschehen zu lassen. Wer Wert darauf legt, mit der Bibel in rechter Weise umzugehen, wird also vor allem anderen der Frage standhalten müssen: Bist du bereit, dich belehren zu lassen, nicht über Geschichtstatsachen oder darüber, was die Propheten und Apostel gedacht und gesagt haben, sondern über Fragen deiner eigenen Existenz und deines Heils? Bist du bereit, dich von Ideologien zu trennen, mit denen du dich über die Wirklichkeit der Welt und deines eigenen Wesens zu täuschen geneigt bist? Bist du bereit, der Wahrheit, wo sie dich berührt, auch wenn diese Berührung unbequem und schmerzhaft ist, standzuhalten und aus den Erkenntnissen, die dir aus der Bibel zuwachsen, die Folgerungen für dein praktisches Verhalten zu ziehen? Bist du bereit, dich entlarven und desillusionieren zu lassen (dieses meint jenes griechische Wort, das Luther sehr mißverständlich mit „Strafe” übersetzt; in der revidierten Fassung heißt es sachlich richtig, aber sprachlich unschön „Aufdeckung der Schuld”)? Bist du bereit, dich erziehen, das heißt auf das von Gott gemeinte und gewollte Ziel hin in Bewegung zu setzen und in Bewegung halten zu lassen? Wer dazu nicht bereit ist, dem kann die Heilige Schrift den Dienst nicht erweisen, um dessen willen sie uns gegeben ist.

Leer4. Es sind noch einige mehr formale Dinge zu bedenken, die zwar „äußerlich”, aber darum doch keineswegs unwichtig sind. Wer die äußere Möglichkeit dazu hat, sollte sich angewöhnen, die Bibel laut zu lesen. Der Klang der Worte, der Rhythmus der Sprache haften fester in der Erinnerung und prägen sich dem Herzen stärker ein als der bloß mit dem Gedanken erfaßte Inhalt. Zu der heilsamen Übung früherer Geschlechter, heilige Texte abzuschreiben, haben die meisten Menschen heute keine Zeit; oder ist es so, daß sie sich nur keine Zeit dafür nehmen? Was man schreibt, freilich nicht mit der Maschine, sondern mit der Hand und zwar in einer geordneten und sauberen Schrift, verbindet sich in einer sehr nachdrücklichen Weise mit unserem Inneren: eine der vielen Formen, in denen sich der Weg von außen nach innen empfiehlt und bewährt. Vielleicht ist manchem Einsamen, Leidenden, in der Wüste darbenden Menschen ein großer Dienst getan, wenn man für ihn als eine sehr persönliche Gabe ein gut gewähltes Stück der Heiligen Schrift schreibt, und die persönliche Handschrift kann dann dem Wort der Heiligen Schrift den Charakter einer ganz persönlichen Anrede verleihen. Schließlich empfehle ich dringend, nicht nur einzelne „Sprüche”, sondern längere Abschnitte der Heiligen Schrift dem Gedächtnis einzuprägen; während des Krieges hatte ich, damals für einen bestimmten praktischen Zweck, in zwei vollständigen Jahresreihen für jede Woche solche Texte ausgewählt. Der schon vorbereitete Druck wurde durch den Fortgang der Kriegsereignisse verhindert; die drei Exemplare des Manuskripts sind verloren gegangen, aber ich besitze noch den Entwurf, aus dem ich diese Reihen rekonstruieren könnte, und ich habe große Neigung, das noch zu tun. Was würde es bedeuten, wenn auch nur ein paar hundert Menschen etwa hundertzwanzig längere Stücke der Heiligen Schrift unverlierbar in ihrem Gedächtnis und in ihrem Herzen trügen?

LeerIn einer Auswahl der Schriften des großen reformierten Theologen Kohlbrügge fand ich den Satz: „Eine Hilfe gegen die Gefahr, daß wir des Schalles gewohnt werden, möchte das doppelte sein, daß wir über das Wort Gottes und seine Einzelheiten fleißig meditieren, zum anderen, daß wir in unserer Seele eine Verwunderung über Gottes Tun unter den Menschenkindern erwecken.” Die Beachtung der Einzelheiten, bis hin zu den einzelnen Vokabeln, und das fragende Staunen sind in der Tat ein guter Schutz gegen die tödliche „Bekanntheitsqualität”, die alles für selbstverständlich nimmt, sich über nichts mehr wundert und gar nicht daran denkt, sich nun auf den Weg zu machen, auf den man andere weist.

LeerDie Heilige Schrift selbst redet von dem Wort Gottes immer im Bilde des Samens und von dem verkündigenden und belehrenden Wort im Bilde der Zeugung. Was wir Meditation nennen, ist nichts anderes als jene personale Hingabe, die bereit ist zu dieser Empfängnis, statt sich mit dem bloßen Intellekt vor der Leben weckenden Begegnung und Berührung zu schützen.

LeerDer rechte Umgang mit der Heiligen Schrift ist eine Sache der Ehrlichkeit, des Fleißes und der Treue; und dieser rechte Umgang ist das entscheidende Mittel dazu, daß die von der Kirche so entschieden betonte und hochgerühmte Autorität der Heiligen Schrift nicht eine bloße Fassade, ein Scheingebilde sei, sondern sich in der Kirche und ihren Gliedern verwirkliche.

Quatember 1960, S. 155 - 159

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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