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Rehabilitierung des Menschlichen
von Gerhard Bartning

LeerDie heutige Kriminalpädagogik arbeitet gern mit Begriffen, die mit der Vorsilbe „Re” beginnen: „Resozialisierung”, „Rehabilitierung”, „Reklasseering” (holl.). Rosenstock-Huessy hat uns daran erinnert, daß die großen „Rückkehrhoffnungen” der abendländischen Geschichte Namen erhielten, die mit derselben Vorsilbe einhergehen: Renaissance, Reformation, Restauration, Revolution. Das Charakteristische all dieser Rückkehrhoffnungen ist, daß sie Neues schufen, indem sie sich von ihrem ursprünglichen Inbild lösten und auf ein Unbildliches hinwagten, bis das Bild der Wiederkehr und der bildlose Abgrund des Glaubens oder der Verzweiflung sich in neuer und zumeist zwiespältiger Gestalt einten. Wo das „Kriminelle” ein An- und Merkzeichen dafür ist, daß bisher behauptete Ordnungen in Wirklichkeit nur noch Schein-Ordnungen, also Un-Ordnungen waren, da muß die „Rettung des Menschlichen” - so hieß das Thema der heurigen Jahrestagung der Stuttgarter Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger” - mehr sein als die „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand”, mehr als die Wiederkehr eines „ordentlichen” und erträglichen Daseins. Gewisse Zusammenbrüche des „Menschlichen” sind in ihrer Furchtbarkeit nur dann „gerechtfertigt”, wenn das, was ihnen folgt, alles Gewesene, auch das Ordentliche, hinter sich läßt.

LeerMitten im gefährlichen Sog einer gescheiterten „Rückkehrhoffnung”, nämlich der Gipfelkonferenz, kamen wir vom 7. bis zum 12. Juni in der Westberliner Kongreßhalle zusammen - zur Pfingstwoche, Ausschau haltend nach dem Schöpfer Geist, um uns zu neuem Sprechen, neuem Wirken mit den „Desorientierten”, mit den Entwurzelten und Ungeborgenen, mit den Menschen ohne Ideal und Autorität, ohne Lebenssinn und Lebensbindung zu ermächtigen und „begeisten”. Aus der Fülle der Vorträge, seien die beiden letzten herausgegriffen: Professor Dr. Bahn, klinischer Psychiater in Groningen, und Frau Dr. Roosenburg, Direktorin eines therapeutischen Heims für Rückfallverbrecher in Utrecht, redeten den Richtern, Ärzten, Seelsorgern und Erziehern ins Gewissen: Der Film des üblichen Strafverfahrens rollte vor uns ab: Wer seine Schuld entdeckt sieht, sucht sich zu entschuldigen. Trotzdem bleibt er betroffen. Nun wird aber das Schulderlebnis durch den Gang des Verfahrens - die mitunter lange Ermittlungszeit und Untersuchungshaft, die Findigkeit des Verteidigers, den Vergleich mit der vermeintlich größeren Schuld und dem geringeren Strafmaß der Mithäftlinge, die nivellierende Wirkung der Strafanstalt, die praktisch weithin auf die Entmündigung des Gefangenen hinauskommt -, vernichtigt und vernichtet. Die „sichernden” Vorkehrungen gegen Disziplinlosigkeiten und Ausbrüche kennzeichnen den Vollzug der Freiheitsstrafe. Die Eigenverantwortlichkeit wird ausgelöscht, also gerade das, was den Menschen zum Menschen macht.

LeerIn Holland hat man nun endlich aufgehört, das Pferd am Schwanze aufzuzäumen. Ein Heim wurde entworfen, das kein Hauspersonal bekommen sollte. Frau Roosenburg forderte ihre „Patienten” auf, binnen einer Woche den künftigen Tagesplan auszuarbeiten. Solcherart in ein Konklave gesperrt, mußten die „schweren Jungs” wohl oder übel Demokratie erleiden und erlernen. Ein Vorstand wurde gewählt, der sich, wie jeder Vorstand, nach einiger Zeit unbeliebt machte, die Unzufriedenen wurden gehört, Fehlschläge untersucht und besprochen, es wurde neu gewählt. . . Dazu kamen Individual- und Gruppentherapie, die den „Patienten” zwingen, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen, wobei es zu schweren körperlichen Krankheitskrisen kommen kann - ein Argument gegen das verbreitete Vorurteil, daß die Psychotherapie den Kriminellen verzärteln müsse. Man müht sich ab und man freut sich, man liebt und lacht und leidet wie überall in der Welt. Und das ganze ist kaum teurer als der bisherige Strafvollzug in einer Zwingburg, der die Rückfallkriminalität so sehr begünstigt. Es gibt weder „Berufsverbrecher” noch „Hoffnungslose” - wenn es so ist, wie Paracelsus meint, daß nämlich für den kranken und gefährdeten Menschen allein der Mensch, die menschgewordene Liebe, die rechte Medizin ist.

Quatember 1960, S. 161

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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