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Um das Verständnis der „Inspiration”
von Wilhelm Stählin

LeerDer Theologische Konvent A.B. hielt im Oktober 1959 zum zweiten Male seine Tagung in Berlin ab, um seinen Mitgliedern aus den östlichen Gliedkirchen die Teilnahme zu ermöglichen. Das Thema war mit Rücksicht auf die lebhafte innerkirchliche Diskussion gewählt worden, welche sich im Anschluß an die Vorträge von Generalsuperintendent D. Jacob („Himmel ohne Gott?”, Kreuz-Verlag, Stuttgart) entwickelt hatte: Die Inspiration der Heiligen Schrift in ihrer Anwendung auf die biblische Urgeschichte. Um die beiden Vorträge waren zwei Gäste des Konvents gebeten worden: Prof. Kraus, Hamburg, gab eine durch Geschlossenheit und Klarheit ausgezeichnete Einführung in die Ergebnisse der alttestamentlichen Forschung mit Bezug auf den literarischen Charakter von Gen. 1 und seine Stellung innerhalb der israelitischen Überlieferung. Prof. Oesch, Dogmatiker an der theologischen Hochschule der lutherischen Freikirche in Oberursel, trug die Auffassung der Missouri-Synode in bezug auf die Lehre von der Heiligen Schrift und ihrer Inspiration vor und gab damit in gewissem Sinn die theologische Begründung jener „Gemeinde-Orthodoxie”, in deren Namen sich Lic. Flügge so entschieden gegen die Vorträge von D. Jakob verwahrt hatte.

LeerEs ist nicht möglich, in einem kurzen Bericht den Inhalt zweier nach Inhalt und Form so grundverschiedener Vorträge und den Gang der sehr lebhaften zweitägigen Aussprache zu skizzieren. Doch lassen sich aus dieser Aussprache einige Gruppen von Erkenntnissen und Fragen herausheben. Nur scheinbar fallen die beiden Problemkreise der Inspirationslehre und der biblischen Urgeschichte auseinander, während ständig das Eine im Hinblick auf das Andere oder auf dem Hintergrund des Anderen diskutiert wurde.

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Leer1. Die für unseren Kreis ungewohnte Konfrontation mit einem fundamentalistischen Biblizismus, der sich in grundsätzlicher Skepsis und souveräner Nichtbeachtung von jeder wissenschaftlichen Betrachtung der biblischen Texte distanziert, brachte uns immer wieder die geschichtliche Relativität aller jener Denkformen zum Bewußtsein, die in unserer wissenschaftlichen Arbeit vorausgesetzt sind; die Kirche, so wurde u. a. gesagt, löst die angeblichen Selbstverständlichkeiten auf; es könnte die Aufgabe und die Stärke der Gemeinde-Orthodoxie sein, daß sie bestimmte Grundpositionen des überkommenen Glaubens gegen die Neigung zur Spiritualisierung verteidigt und bewahrt. Auf der anderen Seite schien es uns ebenso unmöglich, aus den Denkformen der Zeit, in die wir gestellt sind, „herauszuspringen” und eine angeblich sturmfreie Zone unantastbarer Gewißheiten zu schaffen. In diesem Sinn kann sogar eine gewisse Ehrenrettung des Liberalismus des 19. Jh. versucht werden, weil jede Zeit sich nur im Rahmen ihrer Denkformen die Offenbarung Gottes und die Geheimnisse des christlichen Glaubens aneignen kann.

Leer2. Eben deswegen, weil es sich hier weniger um bestimmte einzelne Erkenntnisse als um Denkformen handelt, glaubten die meisten Teilnehmer, mit Nachdruck vor einer Art von Apologetik warnen zu müssen, die damit arbeitet, daß die angeblichen Ergebnisse der Wissenschaft doch auch nur unbewiesene Hypothesen seien. Damit erreichen wir alle diejenigen Menschen nicht, die nun einmal - vor allem im Osten, aber auch im Westen - in diesen Denkformen groß geworden sind. Auch die Tatsache, daß mit einem naiven und handfesten Biblizismus daheim und in der Mission größere Massen „erreicht” werden können als mit jeder vorsichtigeren Denk- und Redeweise, ist kein überzeugendes Argument, weil der Blick auf den Erfolg nicht von der nüchternen Sachlichkeit und gewissenhaften Ehrlichkeit dispensieren kann.

Leer3. Die Lehre von der wörtlichen Inspiration der Heiligen Schrift und die darauf gegründete Meinung, daß man sachliche Fragen einfach durch das „scriptum est” erledigen könne, ist eine Glaubensaussage, die sich mit wissenschaftlichen Argumenten weder beweisen noch widerlegen läßt. Aber sie ist eine unerlaubte Simplifizierung, die dem wirklichen Charakter der Hl. Schrift nicht gerecht wird. Sie konstruiert, um unserem Sicherheitsbedürfnis zu genügen, eine andere Bibel, als die Bibel ist, die Gott seiner Kirche in Wahrheit gegeben hat. Diese Gemeinde-Orthodoxie ist nicht in erster Linie wissenschaftlich falsch, sondern vor allem theologisch bedenklich. Sie kann der perspektivischen Sicht nicht genügen, in der die Wahrheit offenbar und erkannt werden will; sie ist ein-sichtig, aber nicht einsichtig.

Leer4. Die von Luther in gläubigem Gehorsam vollzogene Identifizierung des geschriebenen Wortes mit der mündlichen Predigt hebt den qualitativen Unterschied des mündlich gesprochenen Wortes als der Primär-Gestalt der Sprache von jeder schriftlichen Fixierung als der Sekundär-Gestalt der Sprache nicht auf. Darum ist die gottesdienstliche Lesung die ursprüngliche Form des Gebrauchs der Hl. Schrift in der Kirche, und eben darum treibt diese Schrift zur mündlichen Predigt.

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Leer5. Daß die Hl. Schrift als Ganzes (nicht jede einzelne Schriftstelle) theopneustos, d. h. inspiriert ist (2. Tim. 3, 16), schließt nicht aus, sondern vielmehr ein, daß in diesem Buch die göttliche Offenbarung in einer spannungsreichen und im einzelnen widerspruchsvollen Form uns anredet. Daß sich die geoffenbarte Wahrheit nicht in ein logisches System bannen läßt, daß die Verschiedenheit der Lesarten und der alten Übersetzungen uns keinen eindeutig überlieferten Text gewährt und daß das ganze Buch auch der Arbeit der historisch kritischen Forschung ausgesetzt ist, gehört zu der Knechtsgestalt des Heiligen Buches. Es ist kein gesteigerter Glaube, sondern vielmehr eine Form des Unglaubens und Ungehorsams, wenn das Bedürfnis nach fragloser Sicherung eine andere Bibel postuliert, als die vorliegende Bibel in der Tat ist.

Leer6. Auch mit Bezug auf die Hl. Schrift hört der Glaube nicht auf, ein Wagnis zu sein. So wenig es möglich ist, die wahren und die falschen Propheten an sicheren Kennzeichen zu unterscheiden, so wenig kann der Wortlaut der Hl. Schrift eine „sturmfreie Zone” zuverlässiger Wahrheit ohne persönliche Entscheidung schaffen. Jede Überlieferung ist immer zugleich eine Auslieferung an die Bedingtheit und Fragwürdigkeit menschlichen Erkenntnisvermögens (vergleiche den Doppelsinn des Wortes paradidonai in 1. Kor. 11, 23).

Leer7. Die Anwendung der Lehre von der Hl. Schrift und ihrer Inspiration auf die biblische Urgeschichte erinnert daran, welche Bedeutung diesen Urgeschichten im Gefüge der christlichen Verkündigung zukommt; ob die beiden biblischen Schöpfungsberichte als Mythen oder als entscheidende Form der Entmythisierung zu bezeichnen sind, ist nicht so sehr eine theologische Meinungsverschiedenheit als vielmehr eine Frage des Sprachgebrauchs. Dabei darf die kosmische Weite von Gen. 1 weder zugunsten des wesentlich engeren Horizonts von Gen. 2, noch zugunsten der existentialen Deutung des Schöpfungsglaubens in Luthers Kleinem Katechismus preisgegeben werden, weil es keine echte Christologie ohne Schöpfungslehre und kein Gesamtverständnis des Heils ohne ein gläubiges Verständnis der geschaffenen Welt geben kann. Die Auseinandersetzungen über die Entstehung der Welt und des Menschen, welche die Wahl des Themas veranlaßt hatten, zeigen, wie dringend notwendig es ist, die Gemeinde ebenso über das rechte Verständnis der Schriftautorität wie über den Sinn der biblischen Urgeschichten zu belehren.

LeerVielleicht darf ich im Anschluß an diesen Bericht, vor allem in Hinblick auf den letzten Absatz, darauf hinweisen, daß ich in einer kleinen Schrift, die vor kurzem unter dem Titel „Wie es war im Anfang” im Evangelischen Verlags werk Stuttgart erschienen ist (Preis DM 4.80), versucht habe, den Sinn dieser biblischen Urgeschichten für uns heutige Menschen zu deuten. In den großen und unerfindbaren Bildern, die uns die Bibel als die Urgeschichte vor Augen stellt, die unsere eigene Geschichte ist, schauen wir an „wie es war im Anfang, jetzt und immerdar”.

Quatember 1960, S. 162-163

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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