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Vorschule des Sakraments
von Wilhelm Stählin

1. Das „Hauptwort”
2. Uhr und Zeit
3. Vom unheiligen Zählen und von heiligen Zahlen
4. Hat der Mensch einen Leib?

LeerVorbemerkung: In meinem ersten Winter in Oldenburg, dem letzten Kriegswinter 1944/45, habe ich sieben Vorträge gehalten, um den vielen, denen wie den meisten Protestanten das Sakrament fremd geworden war, einen Zugang zu erschließen. Ich wollte nicht eigentlich und direkt vom Sakrament des Altars sprechen, sondern stellte die Vorträge unter das Gesamtthema „Vorschule des Sakraments”, zu welcher Formulierung ich durch das kurz zuvor erschienene Buch von Romano Guardini „Vorschule des Gebets” angeregt war, und ich gab den einzelnen Vorträgen bewußt etwas aufreizende Überschriften, die scheinbar mit dem Sakrament überhaupt nichts zu tun hatten, um dadurch deutlich zu machen, wie notwendig es ist, bestimmte Denkformen zu überwinden, die dem Verständnis des Sakraments entgegenwirken. Ich habe die alten Vorträge wieder einmal hervorgeholt, und teile sie in diesem und einer Reihe nachfolgender Aufsätze in ihren Grundgedanken den Lesern unserer Jahresbriefe mit, weil ich durchaus der Meinung bin, daß die damals erörterten Fragen heute noch genauso aktuell sind, wie vor 20 Jahren, und daß wir, oder doch viele von uns, einer solchen „Vorschule” keineswegs entwachsen sind.

1. Das „Hauptwort”

LeerSeit der Zeit des Barock wird nach den Regeln der deutschen Rechtschreibung das „Substantiv” mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben. Zwischen 1680 und 1720 hat sich diese Neuerung durchgesetzt, und es scheint, daß auch in der (übrigens fragwürdigen) Reform der Rechtschreibung, die zur Zeit vorbereitet wird, die Großschreibung der Substantive beibehalten werden soll, weil sie nach allgemeinem Urteil der Klarheit und Übersichtlichkeit der Sätze zugute kommt. Die Anwendung dieses Grundsatzes ist nicht immer leicht, und es gibt viele Einzelfragen, die nur nach komplizierten Regeln entschieden werden können. Aber der Grundsatz, daß das „Hauptwort” groß geschrieben wird, ist eindeutig; er ist ein besonderes Merkmal der deutschen Sprache, in keiner anderen Sprache bekannt, und er war auch im Deutschen, als er sich durchsetzte, eine Neuerung. Luther kannte die Großschreibung des Hauptworts noch nicht; er hat nur Namen, vor allem die Namen Gottes, und den Satzanfang, außerdem, wie ein Kenner der Luthersprache behauptete, ziemlich willkürlich das, was ihm wichtig war, groß geschrieben.

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Leer1. Es lohnt sich, den geistesgeschichtlichen Hintergrund jener barocken Neuerung zu untersuchen. Wir pflegen in der Grammatik das Substantivum als das „Hauptwort” zu bezeichnen, während die lateinische Sprache das Zeitwort, als das verbum, als das Wort schlechthin, also als das eigentliche Hauptwort kennzeichnet. Die Voraussetzung jener besonderen Hervorhebung des Substantivs ist also offenbar die Neigung, den „Gegenstand”, das „Ding”, über das etwas ausgesagt werden soll, für das Wesentliche und Entscheidende zu halten. Die „Sache” ist die Hauptsache; das Wort, das die Sache bezeichnet, ist das Hauptwort, das durch große Anfangsbuchstaben hervorgehoben werden soll. Dem gegenüber unterstreicht die Bezeichnung des Zeitwortes als des verbum die Tätigkeit oder das Geschehen, den Vorgang, die Handlung. Erst das Verbum macht den Satz. Es kann auch vollständige Sätze ohne Substantiv geben: „Es regnet”; „Ich fürchte mich”, während ein Satz ohne Verbum, wie in manchen Meldungen der Zeitungen oder des Rundfunks immer nur als ein unvollständiger Satz gebildet und verstanden werden kann.

LeerDie beiden biblischen Grundsprachen, vor allem das Hebräische, sind Verbalsprachen, in denen die Sprachstämme im Verbum gefunden werden müssen.

LeerIm Zusammenhang mit jener Verlagerung des Schwergewichts vom Verbum auf das Substantiv, wie sie in der Großschreibung des Hauptwortes sichtbar wird, besteht eine unverkennbare Neigung, Tätigkeiten oder Eigenschaften in scheinbare Gegenstände zu verwandeln. Dazu gehört sehr wesentlich die Bildung der Abstrakta, die eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft in einem Substantiv ausdrücken. Das Plattdeutsche hat - auch in den plattdeutschen Übersetzungen der Heiligen Schrift - den großen Vorteil, daß es keine Abstrakta gebildet hat. Friso Melzer hat in seinen Büchern über die Sprache für das Abstraktum die hübsche Verdeutschung „das Dörrwort” erfunden; und gerne erinnere ich mich an Karl Spittelers „Prometheus und Epimetheus”, der von seinen beiden Helden rühmt, daß sie von Herzen spinnefeind waren den „Götzen Heit und Keit”. Hierher gehört auch die substantivische Verwendung des Infinitivs („Das In-Erscheinung-Treten eines Ereignisses” - „Das In-den-Abgrund-seiner-Freiheit-Geworfensein des Menschen”); eine sprachliche Scheußlichkeit, deren sich freilich auch sehr viele gebildete Schriftsteller - nicht nur Theologen - schuldig machen.

LeerAuf der gleichen schiefen Ebene der Sprachverderbnis bewegen sich (oder vielmehr rollen) alle jene Umschreibungen, denen es nicht vornehm genüg dünkt zu sagen, ein Flugzeug sei abgeschossen worden, sondern „es wird zum Absturz gebracht” (wohin wird es denn gebracht?), oder die glauben sagen zu müssen „die Witterung hat einen Umschlag erlitten” (die Ärmste!). Das alles ist eine Entartung des Denkens und eine Mumifizierung der Sprache. Das großgeschriebene Substantiv bezeichnet nicht mehr eine wirkliche „Sache”, sondern es läßt ein Geschehen, eine Tätigkeit, eine Handlung zu einem scheinbaren Gegenstand erstarren. Diese von uns getadelte und beklagte Neigung widerstreitet aber auch der offenbaren Tatsache, daß in der heutigen Physik die Materie ihrer Gegenständlichkeit entkleidet wird. Der „Stoff” löst sich auf in komplizierte kreisende Elektronen, in Bewegungen, Schwingungen und Strahlungen, kurz gesagt in Vorgänge, die sich einer gegenständlichen Anschauung völlig entziehen. Der „Gegenstand” ist nur scheinbar eine habhafte und greifbare Sache, seine wahre Wirklichkeit wird als ein Vorgang, als Prozeß, als Bewegung, als Wandlung erkannt.

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Leer2. Wie muß sich dieser Unterschied zweier verschiedener Weltbetrachtungen und Denkweisen in der religiösen Sphäre auswirken? Was meinen wir eigentlich, wenn wir im Glaubensbekenntnis unseren Glauben an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, bekennen und von Himmel und Ewigkeit reden? Nicht wenige Theologen haben die Sorge, daß mit solchen Vokabeln eine Vielzahl „metaphysischer” Gegenstände in einem oberen Stockwerk des Weltgefüges gemeint sei, und lehnen solchen Supranaturalismus als mythologische Redeweise nachdrücklich ab. Aber muß man wirklich erst erklären, daß der „Himmel” kein Raum irgendwo und „Gott” nicht der „Singular des Plurals Götter” ist? Der Satz „Es gibt einen Gott” ist ein Musterbeispiel jenes falschen gegenständlichen Denkens und ist gerade als solcher ein ganz und gar unfrommer Satz, dem der Atheismus mit einem gewissen Recht widerspricht. Der Glaube an Gott meint nicht den irgendwo existierenden, sondern den lebendigen und handelnden Gott. Christus ist Gott, der in die Geschichte eingegangen ist - im Unterschied von dem deistischen Gott, der im Grunde keinen Zusammenhang mit dem Geschehen in der Welt hat und also ein gespenstischer Begriff bleibt. Offenbarung ist nicht eine Mitteilung über übernatürliche Realitäten, sondern die Bewegung Gottes auf die Welt zu, sein Handeln an Menschen und durch Menschen.

LeerAuch die alten vier „Elemente” sind ja nicht in unserem Sinn physikalisch-chemische Grundstoffe, sondern vier verschiedene Stadien in der Spannung zwischen Verbum und Substantiv. Feuer und Wind, unter denen sich der Heilige Geist manifestiert, bezeichnen diejenigen „Zustände”, die am weitesten von jeder greifbaren Gegenständlichkeit entfernt, vielmehr reiner Vorgang der Bewegung und der Wandlung sind; der Heilige Geist sieht nicht aus wie eine Taube, sondern er kommt auf den Herrn wie eine herabschwebende Taube. Darum ist auch von Christus nichts über seine Gestalt und sein Aussehen berichtet, sondern über sein Tun und sein Werk. Der Glaube an Christus ist nicht eine Lehre, die man aufschreiben und aufbewahren kann, sondern eine Geschichte, die uns in ihren Wirkungsbereich einbeziehen will, Tod und Auferstehung.

LeerAuch die Gleichnisse Jesu haben niemals einen Zustand, eine Form, eine Gestalt (etwa die Schönheit eines blühenden Baumes oder das im Wind bewegte Ährenfeld) im Auge, sondern einen Vorgang: Wachstum, Ernte, Arbeit, Lohn, Reinigung oder Kampf. Das geistliche Leben ist ein Weg, der begangen werden soll; nicht ein Besitz, auch nicht ein gedanklicher Besitz, sondern eine Kraft, die wirkt, Zeugung und Empfängnis und neue Geburt. Es ist gewiß eine verhängnisvolle Mode, von der Kirche nur als „Ereignis im je und je” zu sprechen und darüber die geschichtliche Kontinuität und Dauer zu verleugnen; aber es bleibt doch eines Nachdenkens wert, daß Luther eine entschiedene Abneigung gegen das Wort „Kirche” hatte, weil es zu sehr an einen Gegenstand, an dieses Haus, diese Organisation, erinnere; auch die Redensart „Um 10 Uhr ist Kirche” erinnert daran, daß es sich hier primär um ein Geschehen, um einen Akt handelt, der vollzogen wird.

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LeerAlles das ist gesagt, um die Bedeutung jener Unterscheidung zwischen einem gegenständlichen und einem dynamischen Denken auf den Kultus und Insonderheit auf das Sakrament anzuwenden. Die Sprache begegnet uns in der zwiefachen Gestalt als aktuelles Geschehen in dem Klangleib der gesprochenen Sprache und als die in Schrift oder Druck konservierte Sprache. „Schrift” ist immer Sekundärgestalt der Sprache. Wenn das „Heilige Buch” als „Wort Gottes” bezeichnet wird, so läßt diese Redeweise nur allzuleicht vergessen, daß das „Wort Gottes” ein lebendiges Geschehen, ein „fahrender Platzregen” (Luther) ist, der sich hier und heute ereignet, und daß dieses Wort des lebendigen Gottes eben kein Gegenstand ist, den man etwa an Stelle der geweihten Hostie in einem Sakramentsschrein aufbewahren könnte. Die Lesung ist Begegnung mit dem gemeinten Inhalt, Beschwörung und Vergegenwärtigung, und die ehrfürchtige Bewahrung eines Heiligen Buches kann auf keine Weise das Ereignis der lebendigen Stimme, der viva vox evangelii, ersetzen.

LeerDie alte Kirche hat an Ostern den Durchgang Christi durch das Grab gefeiert, das Pascha-Mysterium, wie es in der Konstitution des Konzils über die Heilige Liturgie wieder genannt wird. Mit Recht heißt es in diesen Konzilsbeschlüssen, daß jeder christliche Gottesdienst ein Spiegelbild dieses Ereignisses ist, bestimmt, die Gläubigen in dieses Mysterium einzubeziehen. Keine Angst vor Zeichen, Bildern, Raumgestaltung und ehrfürchtig gestalteten Geräten! Aber das Eigentliche ist immer der „Vorübergang Gottes”, der uns hier und jetzt begegnen und sich mit uns verbinden will.

LeerAll diese Dinge werden aktuell in dem rechten Verständnis des Sakraments. Es ist eine Handlung, kein sakraler Gegenstand. Gewiß, der Heilige Geist hat etwas zu tun mit Wasser, Brot und Wein und mit der menschlichen Hand. Aber es handelt sich nie um den Gegenstand als solchen, sondern um das, was damit geschieht: um das Brot, das gesegnet, gebrochen und verzehrt wird, um den Wein, der ausgeteilt und getrunken wird. Erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends verlagert sich im Verständnis des Sakramentes die Aufmerksamkeit von der actio, dem Vollzug des Heiligen Mahles, auf die „Elemente” Brot und Wein, und die Verehrung der geweihten Hostie als eines sakralen Gegenstandes ist erst im späten Mittelalter, in der Zeit, als das sakramentale Leben verfallen war, in Übung gekommen. Wenn die Väter der Reformation betonten „sacramentum non nisi in actu”, so haben sie damit einen Rest des echten Mysteriums als eines geheimnisvollen Geschehens gegen jede Vergegenständlichung des Heiligen verteidigt.

LeerJene Verlagerung des Interesses von dem Tun und dem Ereignis auf den Gegenstand, der in der Großschreibung des „Hauptwortes” seinen symbolischen Ausdruck gefunden hat, läßt sich gewiß nicht dadurch rückgängig machen, daß man auf jene großen Anfangsbuchstaben verzichtet und nach dem Vorgang etlicher Dichter alles unterschiedslos klein schreibt, sondern nur indem wir uns bis in alle Konsequenzen hinein klarmachen, daß Gott und das Heilige nicht Stein, Kristall, Kugel, Perle, Gold ist, sondern Sturmwind und Feuer; er braust, er brennt, er geht vorüber und man kann diesen Vorübergang Gottes, der sich hier und jetzt ereignen will, versäumen.

LeerAuch dieses zu bedenken, gehört zur Vorschule des Sakramentes.

Quatember 1964, S. 72-75

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-29
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