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von Wilhelm Stählin |
1. Das „Hauptwort” 2. Uhr und Zeit 3. Vom unheiligen Zählen und von heiligen Zahlen 4. Hat der Mensch einen Leib? In Luthers Auslegung des 5. Hauptstückes im Kleinen Katechismus heißt es von den Worten, daß Christi Leib und Blut für uns „gegeben und vergossen sind zur Vergebung der Sünden”, daß diese Worte „neben dem leiblichen Essen und Trinken als das Hauptstück im Sakrament” stehen. Also ist leibliches Essen und Trinken das Haupt- und Mittelstück der sakramentalen Feier. Damit stellt sich Luther in einen unmißverständlichen Gegensatz zu jedem spiritualistischen Denken, welches das ganze Schwergewicht in das rein „Geistige”, in die sogenannte „Innerlichkeit” verlegt. Aber es kann kein Zweifel darüber sein, daß das Erbe dieser humanistischen Geistigkeit trotz alles betonten Gegensatzes im Protestantismus weiter lebt, und daß eine gewisse Neigung dazu auch bei Luther selbst nicht fehlt. Seine eindeutig falsche Übersetzung von Luk. 17, 21 ist dafür ein deutlicher Beleg; denn es heißt eben nicht (und kann nach dem ganzen Zusammenhang nicht heißen), daß das Reich Gottes „inwendig in uns”, sondern daß es mitten unter uns erschienen ist. In diesem spiritualistischen Erbe liegt eine der Wurzeln für die Schwierigkeiten, die der heutige Mensch gegenüber dem Sakrament empfindet; und es gehört darum zur „Vorschule des Sakraments”, daß wir über Sinn und Tragweite unserer leiblichen Existenz Klarheit gewinnen und Klarheit verbreiten. Für das biblische Denken ist es kennzeichnend, daß die Unterscheidung von Körper und Seele (oder Körper, Seele und Geist) für das Verständnis des Menschen nicht nur ganz unwesentlich ist, sondern in den beiden biblischen Ursprachen überhaupt keinen angemessenen Ausdruck finden kann. Darum trifft das Gericht Gottes den ganzen Menschen und ebenso umschließt das verheißene Heil den ganzen Menschen; nicht der „Seelen Seligkeit” (eine höchst mißverständliche Übersetzung!), sondern Heilung und Heiligung des ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist: „Daß Euer Geist ganz samt Seele und Leib unsträflich bewahrt werde auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi” (1. Thess. 5, 23). Darum richtet sich die christliche Hoffnung nicht auf eine von den Fesseln des Leibes befreite unsterbliche Seele, sondern auf jene Verwandlung des ganzen Menschen, die wir Auferstehung nennen, und auf eine neue „geistliche” Leiblichkeit (1. Kor. 15, 44). Nur von hier aus ist der Glaube an die Menschwerdung des göttlichen Logos und die Verehrung der Jungfrau Maria als der leiblichen Mutter des Erlösers zu verstehen (Ideen haben keine Mütter; sie werden gedacht, aber nicht geboren), und ebenso die starke Betonung des leibhaften Opfers, durch das Christus am Kreuz das Heil der Welt gewirkt hat. Die eigentliche Unterscheidung, die für das biblische Denken wesentlich ist, läuft quer; es ist die Unterscheidung zwischen „Fleisch” und „Geist”, wobei „Geist” nicht die menschliche Innerlichkeit, sondern das von Gott erweckte und erfüllte Menschenwesen, „Fleisch” das von Gott losgelöste und ihm widerstrebende Menschenwesen bezeichnet; beides aber bezieht sich auf den ganzen Menschen, so daß es einen geistlichen Leib und einen sehr fleischlichen Geist geben kann. Der Vorwurf, das Christentum habe die schöne leib-seelische Einheit und Harmonie des Menschenwesens zerstört, trifft also überhaupt nicht das wahrhaft biblische Denken, um so mehr freilich die spiritualistische Entwertung der leiblichen Sphäre, die aus dem Neuplatonismus in den christlichen Bereich eingeströmt ist und die in einem unausrottbaren Irrtum bis heute dem Christentum zur Last gelegt wird. Es läge nahe, davon zu sprechen, welche Rolle in der ganzen Menschheitsgeschichte, wie sie in der Bibel vor uns ausgebreitet wird, leibliches Essen und Trinken, Zeugung und Geburt spielen, erst recht, welche zentrale Bedeutung in der evangelischen Geschichte leibliche Heilungen haben. Die Preisgabe des körperlichen Lebens an eine rein materialistische - hygienische oder biologische - Denkweise kann sich nur durch ein radikales Mißverständnis auf die Heilige Schrift berufen und sie hat selbst innerhalb der medizinischen Wissenschaft und Praxis ihr erstaunliches Gegengewicht in einem psycho-somatischen Ganzheitsdenken gegenüber allem bloßen medizinischen oder psychologischen Spezialistentum gefunden. Aber da wir mit unserer Betrachtung auf das Verständnis des Sakramentes abzielen, beschränken wir uns auf die Betrachtung des gottesdienstlichen Handelns als eines leibhaft-sinnlichen Geschehens. Aber die Einheit des Menschenwesens ist noch nach einer anderen Seite hin zu wahren: Mit der Aufspaltung des Menschen in Körper und Seele geht Hand in Hand die Einengung der Seele auf das Bewußtsein, so daß man geradezu die Bewußtheit (im Unterschied von der Ausdehnung) als das Kennzeichen des Psychischen ansehen wollte. Aber damit werden ja Seelenräume ausgeschaltet oder an den Rand gedrängt, die jenseits (unterhalb oder oberhalb) der Bewußtseinsschwelle liegen. Die Tiefenpsychologie hat uns den Blick geöffnet in jene umfassenden Räume jenseits unseres Bewußtsein, in die unser Seelenleben eingebettet ist. Es heißt in der Heiligen Schrift, daß Gott „Herz und Nieren prüft”. Mit der Vokabel Herz ist aber immer jene Seelentiefe gemeint, die dem Menschen selbst verborgen und seinem willentlichen Zugriff entrückt ist; „Gott allein kennt des Menschen Herz und er lenkt es wie Wasserbäche” (Sprüche 21, 1). Die Nieren aber stehen hier für alle jene Vorgänge und Funktionen, die zwar in eminentem Sinn lebenswichtig sind, aber nur in krankhaften Fällen dem Menschen zum Bewußtsein kommen und nicht von ihm beherrscht oder gelenkt werden können. Es ist an der Zeit, daß wir uns an solche biblische Worte und die darin zutage tretende Erkenntnis erinnern. Das Schwergewicht des menschlichen Seins hat sich aus den vegetativen Bereichen (dem Zwerchfell) in die Großhirnrinde und damit in das denkende Bewußtsein verlagert. Wir stehen aber am Ende jener Periode, an deren Wiege das Wort von Descartes steht: Cogito ergo sum, worin das Denken zum eigentlichen Merkmal und Inhalt des Seins gemacht und damit der Mensch buchstäblich „auf den Kopf gestellt” wird. Unter der Alleinherrschaft des Bewußtseins gilt auch im Kultus nur das, was sich an das bewußte Denken wendet. Der sprichwörtliche Widerstand gegen alle „kultischen” Elemente, gegen Liturgie und Sakrament entspringt dem (zumeist unbewußten) Widerstand dagegen, daß der ganze Mensch in seiner Leibhaftigkeit und in seiner seelischen Tiefe wahrhaft beteiligt wird und daß eben in diesen Räumen etwas an ihm geschieht. Friedrich Niebergall hat vor mehr als einem Menschenalter in seiner Praktischen Theologie das Scherzwort geprägt, im protestantischen Gottesdienst säßen die Menschen alle unter dem aufgespannten Regenschirm ihres Intellekts, der sie davor bewahrt, wirklich naß zu werden. Es ist nicht zu bestreiten, daß der praktische Verfall des Sakramentes in den protestantischen Kirchen der letzten beiden Jahrhunderte mit dieser Alleinherrschaft des denkenden Bewußtseins und mit der Entleerung der Sprache zu einem bloß belehrenden oder ermahnenden Appell zutiefst zusammenhängt. Darum kann auch nicht allein durch lehrhafte Unterweisung, so notwendig sie ist, der verschüttete Zugang zum Sakrament neu erschlossen werden; einem solchen Versuch sind enge Grenzen gezogen, wenn nicht zugleich jene Bereitschaft geweckt werden kann, in der Tiefe und Weite der menschlichen Ganzheit etwas an sich geschehen zu lassen. Darum ist auch die immer noch herrschende Praxis, die Kinder im Konfirmandenalter wesentlich durch Erklärung, vor allem über die die Konfessionen von einander unterscheidenden Abendmahlslehren, auf die Teilnahme an dem heiligen Mahl vorzubereiten, mehr als fragwürdig, da ja vielmehr der Aberglaube an die Fähigkeit des denkenden Bewußtseins, alles zu durchdringen, gebrochen und die Bereitschaft und Fähigkeit geweckt werden muß, einzudringen in jene tieferen Räume, von denen Märchen und Mythos in ihrer Weise etwas auszusagen versuchen, und in diesen Tiefen sich öffnen zu lassen für die heilsame Gabe, die immer den ganzen Menschen, mit Geist, Seele und Leib meint; eben darum weil der Mensch nicht einen Leib „hat”, sondern vielmehr ebenso Leib wie Seele ist und in dieser unzerspaltenen Einheit zum Heil, zur Teilnahme an dem Leben Christi berufen ist. Quatember 1964, S. 165-168 |
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