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Blick auf den theologischen Nachwuchs
von Hartmut Löwe

LeerWer wissen will, wie die Kirche morgen aussehen wird, kann sich bei verschiedenen Stellen um Auskunft bemühen. Mir scheint es am ergiebigsten, den Blick auf die Situation des theologischen Nachwuchses zu richten. Natürlich entscheiden über die Zukunft der Kirche nicht allein die Theologen. Das wäre schrecklich. Aber der künftige Pfarrer wird schon ein gewichtiges Wort mitreden. Seine Umwelt, seine Fragen und Antworten, sein Verständnis vom Auftrag der Kirche hat Bedeutung, zum mindesten als kritisches Korrektiv für eigene Sorgen, Hoffnungen, Wünsche. Freilich sind die Studenten und Vikare nicht über einen Leisten zu schlagen; das Bild ist bunt und vielgestaltig wie eh und je, ja vielleicht eher noch unübersichtlicher und verworrener. Immerhin lassen sich einige Dinge sagen, die für viele zutreffen: Trends und Probleme, mit denen jeder fertig werden muß, der wach an der Lage von Theologie und Kirche teilhat.

LeerStudenten und Vikare finden eine krisenhafte Verschärfung in der Beziehung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Theologie und Gemeindefrömmigkeit, zwischen theologischem Anspruch und kirchlicher Wirklichkeit vor. Wer sich auf der Universität radikale gesellschaftsverändernde Theologumena aneignete, findet in der Gemeinde noch seltener Gehör als die einstmals entschlossenen Vertreter der Entmythologisierung; wer an dem Sinn der kirchlichen Unternehmen Predigt, Gottesdienst und Amtshandlungen fundamental zu zweifeln begann, sieht den Alltag des Pfarrers vornehmlich von diesen Handlungen ausgefüllt.

LeerAber bei den hier genannten Schwierigkeiten handelt es sich lediglich um Symptome, die Ursachen liegen tiefer. Entscheidend ist - und das ist die Situation, mit der jeder Student irgendwie fertig werden muß -, daß die Theologie selbst in eine Krise geraten ist, die von der lawinenartig angeschwollenen Produktion an theologischer Literatur nur verschleiert, aber nicht zugedeckt werden kann. Hinzu kommt die strukturelle Krise der Universitäten, an denen man der Theologie begegnet: Sie hat unsichere, teilweise verängstigte Professoren hervorgebracht und Studenten, die ihre neue Rolle als Partner der Lehrenden - weil nirgendwo darauf vorbereitet - erst mühsam lernen müssen. Das Mainzer Spektakel ist nur scheinbar eine Ausnahme, wächst letztlich aus dem gleichen Sumpf der Angst: die einen werden aus Unsicherheit konservativ bis reaktionär, die anderen hängen sich blindlings an den vermeintlich fortschrittlichen Zug der Zeit - ebenfalls aus Angst, den Anschluß zu verpassen, zum Müll der Geschichte zu werden. Unsichere Lehrer aber haben als ihre Entsprechung unsichere Studenten; allzu große Lautstärke ist ja ebenfalls meistens ein Zeichen von Unsicherheit.

LeerWesentlich ist: Das Verständnis der Sache der Theologie selber ist strittig. Diese Situation kommt natürlich nicht von ungefähr. Sie hat sich lange schon vorbereitet. Ein Pluralismus verschiedener Theologien ist gut und in der Gegenwart unumgänglich. Früher waren das Material und die Methode, mit denen die Theologie arbeitete, für einen Einzelnen zu übersehen und auch zu bewältigen. Nachdem es keinen verbindlichen philosophischen Ausgangspunkt mehr gibt, die Methoden sich immer mehr differenziert haben, die Masse des exegetischen, dogmengeschichtlichen, soziologischen Materials unübersehbar geworden ist, kann kein Einzelner mehr so anmaßend sein und behaupten, er verwalte die Theologie. Die eine Theologie - aller Pluralität muß ja, wenn vielleicht auch nicht adäquat aussagbar, eine Einheit vorausgehen - hat sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen aufgefächert, deren jeweiliger Ort und Anspruch im Ganzen der Theologie nicht mehr deutlich sind. Die kritische Analyse dieses Tatbestandes kann hier nicht durchgeführt werden, aber einige Hinweise sind möglich.

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LeerOrganisierendes Prinzip und damit Ort der Einheit der Theologie war früher die Dogmatik oder Systematik. Mit dem nachlassenden Einfluß der dialektischen Theologie fiel plötzlich diese Mitte aus. Der frei gewordene Platz wurde eine Zeitlang - so während meiner Studienzeit Mitte der fünfziger Jahre - von den exegetischen Disziplinen ausgefüllt unter Berufung auf Prinzipien der Reformation, die diesen Tatbestand legitimierten mit dem Hinweis, evangelische Theologie sei nichts anderes als Auslegung der Heiligen Schrift. Man hat ja sogar die Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift verstehen wollen. Eine Weile schien das überzeugend, solange nämlich, wie die Exegeten in Personalunion Systematiker waren. Als diese sich auflöste, wurde vollends evident, daß die exegetischen Disziplinen selber von systematischen Prämissen leben oder aber sich in das positivistische Ansammeln von exegetischem Stoff auflösen, wobei sie dann jedoch das Geschäft der Interpretation nicht mehr zu leisten vermögen.

LeerIn die entstandenen Lücken stoßen nun immer neue theologische Entwürfe vor, die bald Jesus als Revolutionär zur Rechtfertigung gesellschaftsverändernder Praxis, bald als Harlekin zur religiösen Überhöhung einer weltweiten Blumenkindermentalität anbieten. Aber mit derlei rasch gefundenen Schlagworten ist keineswegs ein neues organisierendes Prinzip theologischer Arbeit gefunden; dem Wirklichkeitsverlust von Theologie und Kirche kann man nicht durch blindwütige Sucht nach Aktualität, auch nicht durch eilfertige Rezeption von Soziologismen aufhelfen. Weder die rasch entworfene politische Theologie noch die plötzlich geradezu abergläubisch verehrte praktische Theologie - die Rede von Praxis ist häufig zum Fetisch geworden und keineswegs klar und eindeutig - vermögen der Theologie ihre Einheit und Mitte zurückzugeben, sie signalisieren lediglich Aporien und bieten Verlegenheitslösungen an.

LeerZur Diagnose hat vor einiger Zeit Gerhard Ebeling mit seinem „Memorandum zur Verständigung in Kirche und Theologie” einen wichtigen Beitrag geleistet. Darin heißt es: „Die gegenwärtig mit der Plötzlichkeit und Vehemenz eines Steppenbrandes um sich greifende Orientierungs- und Bildungskrise ist trotz vorherrschender Symptome kein bloßes Generationen- und Institutionen-Problem. In ihr kommen Nöte und Aufgaben globalen Ausmaßes zum Ausbruch, deren Ursachen geschichtlich weit zurückliegen und deren schuldhafte Bagatellisierung nun extreme Reaktionen hervorruft. Nicht zufällig hat die Krise gerade im Bereich von Theologie und Kirche viel Zündstoff gefunden. Die in den letzten Jahrzehnten weithin verdrängten Aufgaben einer Umformung des christlichen Denkens und kirchlicher Lebensformen werden angesichts der gesellschaftsrevolutionären Wucht einer zweiten Aufklärung erschütternd akut. Das trifft zusammen mit einer Art kirchlich-theologischen Vakuums am Ende der durch die dialektische Theologie und die Auswirkungen des Kirchenkampfes unter dem N. S.-Regime geprägten Phase.

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LeerSo sehr darin schließlich die restaurativen Züge dominierten und zu radikalen Gegenpositionen reizten, leiten diese doch wiederum ihre theologische Rechtfertigung von gewissen Partialimpulsen jener Zeit ab (man denke an Schlagwörter wie ‚politische Predigt’, ‚nichtreligiöse Interpretation’, ‚Überwindung der Metaphysik’, ‚Entmythologisierung’ usw.). Soweit bisher erkennbar, mangelt es an geistlicher Kraft und denkerischer Geduld, der Versuchung zu falschen Alternativen (z. B. soziale Dimension gegen Individuum, Weltlichkeit gegen Frömmigkeit, Zukunft gegen Tradition, Freiheit gegen Autorität usw.), zu unkritischen Anleihen bei attraktiven aktuellen Erscheinungen (die dann, wie augenblicklich Psychologie und Soziologie, als Theologieersatz mißbraucht werden) sowie zu einem unseriösen Umgang mit der Sprache (Primat der momentan effektvollen Schlagzeile in Anpassung an Vulgärjournalismus und Reklametechnik) zu widerstehen. In diesem Klima vollzieht sich eine zersetzende Polarisierung theologischer und kirchlicher Positionen, die auf beiden Seiten in den Sog eines Schwärmertums geraten, welches das Vermächtnis der Reformation preisgegeben hat.”

LeerDas ist eine nüchterne und sachliche Bilanz, die m. E. auch heute noch unverändert gilt. Ist sich aber die Theologie in einem solchen Ausmaß nicht mehr ihrer Sache gewiß, dann ist es nichts weiter als selbstverständlich, daß wir nicht selten bei unserem theologischen Nachwuchs ein geringes Maß an theologischer Urteilsfähigkeit, einen Hang zu vorschnellen Polarisierungen vorfinden, eine verbreitete Unsicherheit über Auftrag und Standort, so daß man sich am ehesten noch sozial-therapeutisch verstehen möchte, aber zurückschreckt vor der Aufgabe, Interpret der christlichen Überlieferung zu sein, für den Glauben einzustehen.

LeerFreilich wäre es verkehrt, den Blick nur auf den theologischen Nachwuchs zu richten und uns selber auszunehmen. Wer nach Herkunft und Statur nicht einfach zum Strammstehen und Empfangen von Parolen neigt, der kennt die gleichen Probleme und weiß um die Verlockung, die theologischen Fragen liegen zu lassen und die eigene Rolle vornehmlich als Sozialhelfer zu definieren. Das Reden vom Glauben ist nicht einfacher geworden; neue, überzeugende Formen von Frömmigkeit sind kaum im Handel; die Probleme der Zeitgenossen scheinen andere zu sein als die seit alter Zeit von Theologen verhandelten.

LeerHier jedoch ist einige Vorsicht und Besonnenheit angebracht. Daß an den hohen Schulen die Bibelwissenschaften gegenwärtig eine Durststrecke erleben, daß wir Pfarrer der biblischen Überlieferung häufig nicht mehr viel zutrauen, hängt wahrscheinlich mit einer schweren Erkrankung des kollektiven Bewußtseins zusammen, das meint, ohne geschichtliche Erfahrung leben zu können - aber darüber nur neurotisch wird, so wie der von seinen Erinnerungen abgeschnittene Mensch in tiefe Depression versinkt; das an die Stelle geschichtlicher Autoritäten die empirischen Wissenschaften gesetzt hat und als Folge dieser Verkehrung eine ungemein flache Anthropologie zeitigt, die den Menschen an sich selbst, die Natur (seine Bedürfnisse) oder eine ominöse Gesellschaft bindet, ohne ihn länger noch für eine größere Wirklichkeit - Gott und sein Reich - offen halten zu können.

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LeerMir hat das in der kleinen Schrift „Theologie und Kirche im 20. Jahrhundert” von Georg Picht vorgetragene Votum Eindruck gemacht, in dem es heißt: „Theologie und Selbstverständnis der Kirche sind - im ‚rechten’ wie im ‚linken’ Lager - in eine erschreckende Abhängigkeit von den wechselnden Moden des Zeitgeistes geraten. Sie lassen sich vom Oberflächenspiel des gesellschaftlichen Bewußtseins treiben und sind den psychopathischen Zuständen dieses Bewußtseins widerstandslos ausgeliefert. Eines der erschreckendsten Symptome der Erkrankung des kollektiven Bewußtseins in der modernen Gesellschaft ist seine Unfähigkeit, geschichtliche Erfahrung wahrzunehmen und zu verarbeiten. Die weitaus gefährlichste Form der Selbstentfremdung, die Preisgabe des Bewußtseins an die Phantome der Aktualität, destruiert auch in Theologie und Kirche das Vermögen zur Konzentration, zur Sammlung, zur Erinnerung und Verarbeitung von Erfahrung, zur Meditation; sie destruiert also das Denkvermögen und die Fähigkeit, verantwortlich zu handeln. Theologie und Kirche haben vergessen, daß humane Praxis stets eine Distanz zu dieser Praxis voraussetzt. Sie haben vergessen, daß sie dazu berufen sind, den Menschen zu dieser Distanz die Freiheit zu geben.”

LeerNun, ich muß den Faden hier liegen lassen. Immerhin sollte deutlich werden, wie der Blick auf Probleme in der heutigen theologischen Ausbildung uns vor unsere ureigenen Probleme stellt. Es wäre also verkehrt, über gewisse Seltsamkeiten des theologischen Nachwuchses zu lamentieren, die solchen Erscheinungen zugrundeliegenden Fragen sind auch von uns noch lange nicht beantwortet.

LeerWas ist bei solchem Stand der Dinge zu tun?

Leer1. Die im Augenblick undeutlich gewordene orientierende Mitte und Einheit stiftende Kraft der Theologie läßt sich natürlich nicht durch ein lehramtliches Dekret oder die Suche nach einem neuen Karl Barth zurückgewinnen. Hier hilft nur geduldige Arbeit, die an verschiedenen Stellen bereits angelaufen ist und geschieht unter dem Stichwort „interdisziplinäre Studieneinheit”. In den Empfehlungen zu einem „Gesamtplan der theologischen Ausbildung”, den im vorigen Herbst die Gemischte Kommission vorgelegt hat, heißt es dazu: „Die Zusammenarbeit verschiedener theologischer Fächer soll.. . deutlich machen, wie die thematische Orientierung der Theologie sich in ihrer Einheit zugleich in verschiedene wissenschaftliche Arbeitszweige auseinanderlegt. Deshalb wird empfohlen, Themen zu wählen, die die Erwartungen an die Theologie in Zusammenhang bringen mit aktuellen Fragestellungen der theologischen Wissenschaft.” Blockseminare der verschiedenen Disziplinen - im günstigsten Fall zusammen mit anderen Wissenschaften (wie etwa das im Frühjahr 1971 in Göttingen unter dem Thema „Gerechtigkeit”) - vermögen den notwendigen und zugleich begrenzten Aspekt der jeweiligen Disziplin sichtbar zu machen. Die Evangelische Studiengemeinschaft in Heidelberg arbeitet seit längerer Zeit schon in ähnlicher Weise in interdisziplinär zusammengesetzten Studiengruppen zur Friedensforschung.

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LeerDie Erfahrungen sind noch zu begrenzt, die Lust an der Zusammenarbeit durch Egoismus der Disziplinen und wechselseitige Sprachschwierigkeiten gehemmt - aber nur auf dem Wege solcher gemeinsamer Unternehmungen kann die Einheit sowohl als auch die notwendige Differenziertheit der Theologie wieder in den Blick kommen.

Leer2. Gegenüber dem allgemeinen Traditionsstreik, in dem wir uns befinden, bei dem Ekel und Überdruß an der Geschichte, der unsere geistige Landschaft kennzeichnet und zu einer unkritischen Beurteilung der Leistungsfähigkeit der empirischen Wissenschaften führt, kann die Theologie nicht in einem Schwindelanfall ihr Thema preisgeben und in Anpassung an eine modische Hochschätzung von Soziologie und Psychologie sich selbst als „Geschichtswissenschaft” aufgeben. Christliche Theologie treiben heißt nun einmal, überkommene Überlieferung dolmetschen - verändern kann diese nur, wer sie zuvor zur Kenntnis genommen hat. Vielleicht kann für einen neuen Geschmack an den Bibelwissenschaften und der Dogmen- sowie Theologiegeschichte auch die Erkenntnis der Psychoanalyse helfen, daß man von der eigenen Vergangenheit gerade dann beherrscht wird, wenn man sie nicht kennt. Die wilden Exegesen eines Ernst Bloch und Erich Fromm, könnten den Theologen, denen die Lust am Studium der Bibel vergangen ist, vielleicht deutlich machen, daß der Schritt in Neuland nur gelingt, wenn zunächst die noch unabgegoltenen Alternativen der jüdisch-christlichen Geschichte zur Kenntnis genommen worden sind.

LeerMarcuse bemerkt in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch”: „Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die umstürzenden Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten.” Wahrscheinlich aber muß sich, um dieses Ziel zu erreichen, die herkömmliche kritische Exegese (vor allem die der Bultmannschule) von Grund auf wandeln. Sie war stolz auf ihre verunsichernde Wirkung, verstand sich als Mittel der Destruktion des Gemeindeglaubens, setzte also ein unliterarisches, naiv pietistisches Verhältnis zur Bibel voraus. Das gibt es nur mehr in immer kleineren Zirkeln. Aufgabe der Bibelwissenschaft wird es in Zukunft weniger sein, Bekanntes zu verfremden, gewiß Geglaubtes zu verunsichern, als vielmehr: die in der Bibel berichtete Geschichte positiv zu vermitteln, die Geschichte Jesu als Mitte eines biblischen Geschichtsbildes anschaulich und kritisch zugleich herauszustellen. Wahrscheinlich ist da der jüngste Weg der alttestamentlichen Wissenschaft vorbildlicher als der der neutestamentlichen.

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LeerAuf diesem Felde wird es nicht anders möglich sein, als daß der Theologe gegen den Strom schwimmt; dem neurotischen allgemeinen Bewußtsein - das begründet ist in dem Mangel an geschichtlicher Tiefe - wird dadurch nicht geholfen, daß der Theologe sich verhält wie ein Arzt, der aus Liebe zu seinen Neurotikern selber neurotisch wird und diesen Zustand dann auch noch als Gesundheit ausgibt.

Leer3. Es scheint so, als sei der Anteil derjenigen, die mit dem Theologiestudium beginnen, es dann aber nach zwei oder drei Semestern aufgeben, größer als früher - exakte Zahlen liegen freilich nicht vor. Ein Grund dafür ist sicher die Barriere der alten Sprachen - immer mehr bringen nicht einmal Latein von der Schule mit, müssen also drei Sprachen im Studium erlernen. Hier ist Abhilfe in der Weise nötig, daß Einführung in die Theologie und das Lernen der Sprachen künftig nicht mehr einander nachgeordnet, sondern miteinander verzahnt werden. Wesentlicher aber ist darüber hinaus, das Dreieck Motivation zum Theologiestudium, wissenschaftliche Theologie, Wirklichkeit der Kirche möglichst früh zum Gegenstand von Einführungsveranstaltungen zu machen.

LeerHilfreich scheint mir da ein Versuch in Hamburg zu sein, der eben begonnen hat und jeweils über zwei Semester laufen soll: Man bildet übersichtliche Gruppen, die es erlauben, miteinander ins Gespräch zu kommen; läßt die jüngste theologische und kirchliche Entwicklung in Textsammlungen und Vorlesungen vorstellen; führt in die Methode und die Praxis wissenschaftlicher Arbeit ein; füllt die Semesterferien mit einem kirchlichen Praktikum aus, das nun aber nicht - wie bislang üblich - einfach neben dem Angebot der Universität steht, sondern im nächsten Semester Gegenstand der Reflexion und Diskussion wird. Das Konzept ist noch neu, es muß nun erst einmal praktisch erprobt werden. Aber etwas Ähnliches wird man sich an den übrigen Fakultäten auch einfallen lassen müssen. Interessant ist, daß bei derlei Versuchen das alte Neben- und Gegeneinander von theologischen Fakultäten und Kirchen zum Miteinander wird, der praktische Bezug läßt sich ja nicht schon im Rahmen der Hochschule finden.

Leer4. Es mag verwundern, daß ich bislang noch gar nicht von dem üblich gewordenen Wunsch der Theologen nach einem Zweitstudium oder einer Zusatzausbildung gesprochen habe. Das Problem ist sehr verwickelt und nicht in wenigen Sätzen darzustellen.

LeerSelbstverständlich handelt es sich auch um eine Modeerscheinung: Psychologie, Soziologie, Pädagogik sind eben derzeit - wie man zu sagen pflegt - „in”, „en vogue”. Aber es wäre zu billig, das Ganze als eine modische Eintagsfliege abzutun. Die Ursache liegt tiefer. Horst E. Richter schreibt in seinem neuen Buch „Die Gruppe” unter der Überschrift „Die Klienten des Psychoanalytikers ändern sich”:

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Leer„Eine fünfte Spezies von Klienten, die neuerdings bei den Psychoanalytikern auftaucht, unterscheidet sich grundsätzlich von allen zuvor beschriebenen. Es sind Individuen (oder Gruppen von Individuen), die nach den geltenden Kriterien nichts mit Kranken gemein haben. Dennoch drücken sie ein Leiden aus, das besonders charakteristisch ist für den beginnenden Umbruch des allgemeinen Selbstverständnisses. Es sind Angehörige sozialer Berufe: Ärzte, Psychologen, Richter, Pfarrer, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Lehrer, Erzieher. Sie alle kommen, weil sie in der Arbeit mit ihren jeweiligen Klientengruppen unzufrieden sind. Diese Unzufriedenheit artikuliert sich in sehr unterschiedlicher Weise. Die Betreffenden stellen es vielfach so dar, daß sie von sich aus Schwierigkeiten hätten, ihre Klienten richtig zu verstehen oder mit ihnen sinnvoll umzugehen. Zum Teil sehen sie das als einen Ausbildungsmangel an. Sie wollen an einem psychoanalytischen Institut mehr darüber lernen, wo eigentlich die psychischen Probleme ihrer Bezugsgruppen genau liegen . .. Hier stößt man wiederum auf das heute so überaus verbreitete Phänomen, daß die Angehörigen vieler sozialer Berufe einsehen müssen, daß diejenigen sich aus ihren Angeboten nichts mehr machen, für die sie zuständig sind.”

LeerEs ist zwar nur ein schwacher Trost, rückt aber die Probleme an den richtigen Platz, wenn wir Pfarrer in der Gesellschaft mit Ärzten, Psychologen, Richtern, Lehrern, Sozialarbeitern beim Psychoanalytiker um Rat nachsuchen sehen. Ein Zweitstudium in Psychologie, Pädagogik, Sozialwissenschaften scheint also gar nicht leisten zu können, was sich viele Theologen davon versprechen; denn die Absolventen dieser Fächer kennen die nämlichen Probleme, Unsicherheiten, Frustrationen. Ein volles Studium scheidet bei der Mehrzahl der theologischen Interessenten auch schon deshalb aus, weil sie intellektuell überfordert sind, wissenschaftlich in zwei völlig verschiedenen Bereichen arbeiten zu können.

LeerEs ist in aller Regel sinnlos, nichttheologische Disziplinen einfach dem theologischen Ausbildungsgang hinzu zu addieren. Person und Tätigkeit des Pfarrers dürfen nicht als Anwendungsfall der sogenannten Handlungswissenschaften erscheinen, sondern umgekehrt: diese Wissenschaften sind funktional den Berufsfeldern des Pfarrers zuzuordnen. Das hat dann zur Folge, daß sie nicht als eigene Fächer studiert werden sollen - ich spreche vom Regelfall, nicht von den wenigen Sonderfällen: für einen hauptamtlichen katechetischen Studienleiter ist natürlich ein volles, auch in die Grundfragen vordringendes Pädagogik-Studium sinnvoll, ja nötig -, sondern in den praktischen Ausbildungsdienst als angewandte Wissenschaften einbezogen werden müssen. Freilich sollten auch auf der Universität Einführungen angeboten werden - unter Umständen speziell für den Theologen. Das Grundstudium des Theologen bleibt Theologie; das Fach ist wahrhaftig ausreichend kompliziert und differenziert. Zur Wahrnehmung pfarramtlicher Tätigkeiten müssen dann nicht wissenschaftstheoretische Probleme, sondern handhabbare Ergebnisse der Psychologie, Soziologie und Pädagogik - also relativ unabhängig von dem jeweiligen Streit der Schulen, die es dort natürlich ebenso wie bei uns gibt - hinzu erworben werden.

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LeerDas alles ist hier nur reichlich knapp angerissen. Es ging mir darum zu zeigen, daß ein volles Zweitstudium für die Mehrzahl der Theologen keine Möglichkeit darstellt:

Leera) aus Gründen des wissenschaftlichen Anspruchs sowohl der Handlungswissenschaften als auch der Theologie, b) wegen der Unmöglichkeit, die Aufgaben des Pfarrers zureichend von Psychologie, Pädagogik, Soziologie her zu bestimmen, c) aus Gründen des Selbstverständnisses von Theologie und Kirche: die gegenwärtig kaum angebbare orientierende Mitte der Theologie wird auf jeden Fall keine der Handlungswissenschaften sein. Um Mißverständnissen vorzubeugen: die haupt-und nebenamtliche Mitarbeit von Pädagogen, Soziologen, Psychologen in der Kirche ist damit nicht abgelehnt, sondern im Gegenteil gefordert; ebenso müssen dem Pfarrer Möglichkeiten geboten werden, sich Grundfertigkeiten in diesen Disziplinen anzueignen.

Leer5. Unser theologischer Nachwuchs klopft beharrlich bei uns an und verlangt Auskunft von uns, was das eigentlich ist: ein Pfarrer. Nun ist die schon lange geführte Debatte um das Berufsbild des Pfarrers recht unfruchtbar im Sande verlaufen. Man hat fünf Typisierungen unterschieden, die freilich in ihrer Abgrenzung gegeneinander fragwürdig sind: a) der Pfarrer als Verkünder des Wortes Gottes - bei dieser Definition des Amtsverständnisses steht die dialektische Theologie Pate, b) der Pfarrer als Priester - diese Kennzeichnung wird der liturgischen Bewegung zugeschrieben, c) der Pfarrer als der vollamtliche Sekretär einer Pionierorganisation - dahinter steht das Konzept der „Kirche für andere” bzw. von „Mission als Strukturprinzip der Gemeinde”, d) der Pfarrer als theologischer Lehrer der Gemeinde, der vor allem den Graben zwischen wissenschaftlicher Theologie und Gemeindefrömmigkeit zu überbrücken hat - hier steht die biblisch-hermeneutische Richtung im Hintergrund, e) der Pfarrer als Funktionär einer sozialtherapeutisch relevanten Institution, die bei der Sozialisation zu helfen und Lebenshilfe in Krisensituationen zu bieten hat.

LeerMan sieht: der Strauß ist bunt, aber kaum auf einen Nenner zu bringen. Der Ausbildungsgesamtplan der Gemischten Kommission hilft sich deshalb, indem er die mißverständliche Rede vom „Berufsbild” aufgibt und statt dessen von kirchlichen Handlungsfeldern spricht, für die entsprechende Fähigkeiten erworben werden müssen. Die Aufgliederung betrifft folgende Bereiche: a) Gottesdienst und Predigt, b) Unterricht, c) Seelsorge und Beratung, d) Diakonie und Sozialarbeit, e) Theologische Zurüstung von Mitarbeitern und Bildungsarbeit, f) Gemeindeleitung und -aufbau.

LeerAber dieser Kunstgriff hilft nur im Augenblick. Denn diese verschiedenen Handlungsfelder werden ja von Personen wahrgenommen, die selbstverständlich eine stärkere oder schwächere Identifikation mit ihren Aufgaben vornehmen werden - und das führt dazu, daß die in der Rede vom „Berufsbild des Pfarrers” versteckte personale Komponente nicht einfach eliminiert werden kann, will man sie nicht kirchlichen Subsystemen überlassen, die dann unkontrolliert das Bild des „Missionars” oder „Priesters” tradieren.

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LeerVielleicht kann man sich auf zwei Dinge einigen:

Leera) Die christliche Überlieferung braucht, soll sie heute verstanden werden, Interpreten und Dolmetscher mit dem Ziel, sie immer neu Gestalt werden zu lassen, einzuüben. Deshalb wird es dabei bleiben, wie es einmal der neue sächsische Bischof Johannes Hempel formuliert hat, daß der Pfarrer vor allem „mit dem Munde zu arbeiten hat”. Das scheint wenig in einer Zeit, in der die Tat vor dem Wort rangiert und die Frage nach der Effektivität allbeherrschend geworden ist. Wir sollten da nicht zu ängstlich sein: Um der Menschlichkeit des Menschen willen muß es eine Verantwortung für das gute, helfende, erhellende, heilende Wort geben - und das heißt hier konkret: Die nicht abwälzbare Aufgabe des Pfarrers ist seine Verantwortung für die Sprache des Glaubens; daß dieser nicht stumm bleibt, sich orientieren lernt, Gemeinschaft stiften kann.

Leerb) Aber die Aufgabe des Pfarrers muß nicht nur von der Überlieferung bestimmt werden. In einer Zeit, in der verbindende und verbindliche Sitten absterben, brauchen die Menschen Helfer, die das gewöhnliche und besondere Leben in seiner letzten Tiefe - also von Gott her - festlich zu feiern verstehen. Liegt hier nicht eine besondere Chance für die hochmütig geschmähten Amtshandlungen, sofern sie in einen größeren Kontext eingebunden sind?

LeerAber wie werden wir fähig dazu? Kaum durch Anleihen am modischen Jargon von Soziologie und Psychologie, natürlich auch nicht durch das Studium altphilologischer Quisquilien. Mir hat der Schluß eines Aufsatzes von Georg Picht über „Probleme einer Strukturreform der Evangelischen Kirche” Eindruck gemacht, in dem es heißt: „Eine der wichtigsten Aufgaben der Strukturreform besteht darin, den Pfarrern und den Theologen wieder die Möglichkeit zu geben, sich auf ihren eigenen Auftrag zu besinnen. Es müssen Strukturen gefunden werden, die im buchstäblichen Sinne des Wortes die Glaub-Würdigkeit der Kirche wieder herstellen können. Der tief eingewurzelte Spiritualismus protestantischen Denkens versperrt uns die einfache Erkenntnis, daß eine Erneuerung der Theologie von der Organisation der Berufspflichten und des Tageslaufs des Theologen abhängig ist. Wenn dieser Tageslauf zeitgemäße Formen der Kontemplation nicht zu seinem Zentrum hat, verliert sich das Predigen in Rhetorik. Wenn der Ursprung des Praxisbezuges der Theologie, nämlich die Distanz zur Praxis, nicht täglich geübt wird, ist die Rede von christlicher Freiheit ein leeres Wort. Niemand vermag die Botschaft Christi zu verkünden, dem man den Raum verwehrt, sie zu vernehmen. Wenn unsere Pfarrer wieder Pfarrer werden sollen, so muß man sie von allen Funktionen entlasten, für die sie weder berufen noch qualifiziert sind.”

LeerIch finde es durchaus in Ordnung, wenn der Blick auf die Situation des theologischen Nachwuchses zur Frage nach unserer eigenen Situation, unserem Selbstverständnis wird. Finden wir ehrliche Antworten, dann wird es für die nachrückende Generation leichter sein, sich zurechtzufinden.

Quatember 1972, S. 204-213

Dazu: Reinhard Mumm - Leserbrief

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-01
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