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Vom Dienst der Brüder in der Welt
von Reinhard Mumm

Zum Jahresthema 1984 LeerIn der Michaelsbruderschaft haben wir den Brauch, ein Jahresthema anzugeben. Das Jahresthema ist nicht als Vorschrift gemeint, die alle Konvente nötigt, es aufzunehmen. Wohl aber möchte es die Brüder anregen, gemeinsam über ein Thema nachzudenken. Was dabei herauskommt, können wir uns gegenseitig mitteilen, sodaß ein Band sichtbar wird, das die Brüder und auch die uns verbundenen Freunde aus dem Berneuchener Dienst und weiteren Gemeinschaften geistig verbindet. So werden wir uns des Reichtums bewußt, der uns anvertraut ist, und es werden Antriebskräfte in Bewegung gesetzt, damit wir vorankommen auf dem Weg, auf den wir uns gewiesen wissen. Das letzte Jahresthema galt dem Helferdienst und der Beichte (vgl. Quatember 2/1983). Wenn jetzt ein neues Jahresthema empfohlen wird, dann ist das hinter uns liegende Thema nicht erledigt; es wird uns weiter begleiten, da Helferdienst und Beichte unerläßlich sind für das Leben der Bruderschaft. Aber nun soll es einen neuen Schwerpunkt des Nachdenkens geben. Der Scheinwerferkegel rückt ein Stück weiter, weil nur dann, wenn das Licht gebündelt auf einen Punkt fällt, eben dieser Punkt recht sichtbar wird. Nachdem wir uns mit den Sekretären für die verschiedenen Arbeitsgebiete beraten haben, auch Vorschläge aus dem Kreis der Brüder kamen, empfiehlt der Rat, den Dienst des Bruders in der Welt zu bedenken. Dieses Thema ist nicht neu; es gehört zum Grundbestand dessen, was uns von Anfang an und immer wieder neu aufgetragen ist. Aber wir haben in der letzten Zeit entdeckt, daß in der Urkunde der Bruderschaft, in der Ziffer 8, etwas steht, was im Jahr 1931 den Stiftern der Bruderschaft am Herzen lag. Sie sprachen damals von „Ständen und Völkern”. Später, als die Regel geschrieben wurde, fanden diese Gedanken, die sich auf den Dienst im öffentlichen Leben beziehen, keinen so deutlichen Ausdruck mehr. Das ist verständlich. Wer die Jahre von 1933-1945 bewußt miterlebt hat, weiß, daß es im Kirchenkampf zunächst um die Freiheit der Kirche ging, das Evangelium auszurichten. Die Freiheit, den christlichen Glauben im öffentlichen Leben zu bezeugen, war eingeschränkt oder auch unterdrückt. Heute können wir neu anknüpfen an die Weisung, die die Urkunde uns gibt. Wir tun das unbefangen, seit die Urkunde anläßlich der Fünfzig-Jahr-Feier der Evangelischen Michaelsbruderschaft für jedermann öffentlich zuganglich ist (s. Heft 23 der Schriftenreihe „Kirche zwischen Planen und Hoffen”).

LeerDer Dienst des Bruders in der Welt beginnt mit dem Dienst der Brüder untereinander. Wir kennen die Gefahr, über der Liebe zu den Fernen die Liebe zu den Nächsten zu vergessen und zu versäumen. Bei einer unserer Arbeitstagungen sagte ein Professor: „Meine Studenten wissen ganz genau, was in Nicaragua richtig oder falsch ist und was dort zu tun wäre, aber sie fahren ungescheut mit 80 km durch geschlossene Ortschaften und kommen nicht auf den Gedanken, daß auch am Lenkrad die Rücksicht auf den Nächsten uns geboten ist.” Die Urkunde beginnt in der genannten Ziffer 8 mit der Aussage: „Die Brüder helfen einander in allen Nöten des Leibes und der Seele nach bestem Vermögen.”.

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LeerDie Brüder sind angeredet. Damit sind andere nicht ausgeschlossen. Aber es geht nicht um hochfliegende Gedanken, wie man die ganze Welt verbessern konnte, sondern zur Welt gehört erst einmal der allernächste Bereich. Wie für ein Kind der Umgang mit Vater und Mutter und den Geschwistern die Welt darstellt, in der es lebt, so gehört zu unserer Welt die Bruderschaft als ein wesentlicher Nahbereich, in dem wir gefordert sind, einander zu helfen, so gut wir es vermögen. Da gibt es leibliche Nöte; wir müssen zwar im allgemeinen nicht hungern, aber Arbeitslosigkeit oder schlechtgehende Geschäfte, Krankheit und die Lasten des Alters plagen unübersehbar so manchen Bruder. Die Nöte der Seele lassen sich in ihrer Vielfalt kaum andeuten; ich erinnere nur an Einsamkeit und Probleme in der Familie, es gibt Anfechtungen im Beruf, in der Kirche, in der Bruderschaft. Mancher leidet unter Schwermut. Welch ein weites Feld für nötige Hilfe tut sich da auf!

Leer Der Dienst der Brüder „gilt allen, die ihrer Hilfe bedürfen.” Nun wird dieses Feld mächtig erweitert. Allen können wir gar nicht helfen. Jeder muß sich fragen, wer für ihn der Nächste ist, dem er sich zuwenden sollte. Auch ist es nötig, davor zu warnen, sich selbst oder der eigenen Frau und Familie zuviel zuzumuten. Das Maß der Kräfte ist verschieden. Die Liebe schließt die Vernunft nicht aus. Freilich soll die Liebe regieren; sie darf nicht von der Bequemlichkeit erdrückt werden.

LeerDie Urkunde fährt fort: Die Brüder „tun in Gebet, Wort und Tat alles, um den Frieden zwischen Ständen und Völkern zu fördern, Haß und Ungerechtigkeit in der Kraft der Liebe Christi zu überwinden.” Hier wird die politische Dimension direkt angesprochen. An erster Stelle steht das Gebet. Vor allen Proklamationen, Demonstrationen und Aktionen hat das Gebet für den Bruder, für alle Christen, die ihren Glauben ernst nehmen, den Vorrang. Es ist wirklich das Gebet gemeint, nicht in Gebetsform dargebotene Meinungsäußerungen, wie das leider so oft zu hören und zu lesen ist. Ein Gottesdienst, der angesichts von Sorgen und Fragen dem Gebet gilt, ist gewiß zu begrüßen. Aber ein Gottesdienst, der die Gestalt einer politischen Demonstration annimmt, entartet zum Zerrbild dessen, was hier gemeint ist. „Wir dürfen das Gebet nicht benützen, um auf uns und unsere Ziele aufmerksam zu machen und unserer Meinung in der Öffentlichkeit ein größeres Gewicht zu verleihen”, schreibt Bischof Johannes Hanselmann in seinem Pfarrerbrief vom 22. September 1983.

LeerAuf das Gebet folgen Wort und Tat. Als Christen sind wir nicht auf den Innenraum der Kirchen beschränkt. Das öffentliche Leben geht uns an, und wir tragen eine Mitverantwortung für das politische Geschehen im weiten Sinn des Wortes. Das kann sich zeigen in der Art, in der wir in Elternbeiräten, in Nachbarschaftsversammlungen und Berufsverbänden mitarbeiten oder auch in Gemeinde- und Stadträten, schließlich in Parteien und Parlamenten. Dazu gehört unsere Mitarbeit in Kirchenvorständen und Presbyterien, Synoden und anderen Gremien, in die wir gewählt oder berufen werden. Was wir schreiben, was wir reden, was wir tun, alles hat sein Gewicht. Wir sind herausgefordert, alles zu tun, um den Frieden zu fördern. Uber den Frieden ist unendlich viel geredet und geschrieben worden. Vom Wort Gottes her wissen wir, daß der Friede seinen Ursprung in Gott hat. Nur wenn der Friede Gottes angenommen wird, erhalt der Friede unter den Menschen die nötige Kraft. Eine Friedenspropaganda, die mit Haßparolen verbunden wird, erweist sich als Lüge. Ein Friede, der krasse Ungerechtigkeit festschreibt, wird nicht beständig sein. Wie wir den Frieden fördern können, das läßt sich nicht im Voraus festlegen. Da kann es wahrlich verschiedene Meinungen geben, auch unter Brüdern. Wir fördern den Frieden gewiß nicht, wenn wir einen Streit entfesseln über die Methoden, wie wir ihn fördern sollen. Wir müssen einander anhören und ertragen, wenn wir verschiedene Wege gehen. Die Gemeinschaft des Glaubens darf nicht zerrissen werden durch einen Kampf um den Frieden. Vielmehr sind wir gehalten, „in der Kraft der Liebe Christi” die Spannungen zu überwinden. Wer diese Kraft außer acht läßt und seine politischen Urteile zu einem Gottesurteil steigert, verläßt den Boden des Bekenntnisses und gerät unter die Schwärmer.

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LeerVon Ständen und Völkern sprachen die Stifter der Bruderschaft; gemeint sind die sozialen und die internationalen Probleme und Gegensätze, an denen wir, gewollt oder ungewollt, Anteil haben. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wenn die Spanne zwischen den Wohlhabenden und Gutverdienenden einerseits und den breiten Schichten des Volkes auf der anderen Seite immer größer wird. Unterschiede hat es immer gegeben. „Arme habt ihr allezeit bei euch”, sagt Jesus. Eine allgemeine Gleichheit gab es nie und wird es auch nicht geben, gleich welches System im Staate herrscht. Aber ständig gilt es, auf einen einigermaßen gerechten Ausgleich bedacht zu sein. Auch hier können wir in Einzelfragen verschiedener Ansicht sein. Die Grundrichtung ist bleibend gewiesen: Wir brauchen einen sozialen Frieden und sind berufen mitzuhelfen, daß er immer neu gefördert wird.

LeerGleiches gilt für den Frieden zwischen den Völkern. Wir sind berufen, den billigen Pauschalurteilen zu widerstehen, die über Polen oder Türken, Deutsche oder Russen, Juden oder Amerikaner manchmal leichthin geäußert werden. Junge Menschen wandern heute durch Länder und Erdteile. Sie lernen, Vorurteile zu überwinden; das ist gut. Vertriebene besuchen Polen, Juden kehren nach Deutschland zurück, es gibt Männer und Frauen, die vorbildlich den Frieden zwischen den Völkern fördern. Dazu sind wir berufen und können dabei zusammenarbeiten mit allen Menschen, die guten Willens sind.

LeerDer letzte Satz lautet: Die Brüder „üben besondere Zucht, wo sie über andere zu urteilen oder mit ihnen zu kämpfen haben.” Wir müssen uns fragen: Tun wir das? Ein Urteil ist rasch gesprochen, ein Verdacht wie ein böses Unkraut ausgesät, das dann unausrottbar weiter wuchert. So geht es zu schon im engsten Kreis und erst recht gegenüber dem Gegner. Der Dienst des Bruders in der Welt umgreift weite Bereiche, aber konkret geht es um das ganz Einfache, Naheliegende, Persönliche. Wenn die einfachen Regeln des menschlichen Anstands außer acht gelassen werden, dann nützen große Aufrufe und Einsätze wenig. Zum Heil und Wohl der Welt helfen wir nur dort, wo der Umgang miteinander dem 8. Gebot entspricht. Es lohnt sich, die Erklärung, die Martin Luther dazu im kleinen Katechismus gegeben hat, dem Gedächtnis neu einzuprägen.

LeerIn allem geht es um den Dienst des Bruders in der Welt. Allein mit Grundsätzen und Programmen werden wir kaum viel Förderliches beitragen, wohl aber durch Hilfen, die der eine oder andere unter den Brüdern, unter Christen überhaupt, gibt. Es wäre aufschlußreich, zu erfahren, wie einzelne Brüder ihren Dienst in der Welt an Hand der Worte der Urkunde verstehen und ausführen. Was könnte ein Arzt dazu sagen und was ein Lehrer? Wie versteht ein Künstler diesen Dienst und wie ein Politiker? Wieweit ist ein Pfarrer berufen, solchen Dienst zu üben, wo gibt es für ihn eine Grenze? So mag sich jeder in seinem Beruf, seinem Familienstand und Alter fragen. Auch ein Ruheständler ist nicht nur zum Zuschauen berufen, sondern gewiß zum Beten und wohl auch zum Reden und Tun. Alle, die diese Zeilen lesen, können sich selbst und andere ähnlich befragen.

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LeerDarüber hinaus mag ein Konvent sich fragen, ob er an irgend einer Stelle zum Weltdienst berufen ist, etwa in seiner Partnerbeziehung zur Bruderschaft in Südafrika oder in seiner Grenzlage als Mittler zwischen zwei Kulturkreisen. Solcher Dienst könnte in einer nahen Beziehung und Mitarbeit in einem diakonischen Werk seines Bereiches liegen oder im Besuchsdienst über die Grenzen hinweg.

LeerSchließlich fragen wir nach dem Dienst der gesamten Bruderschaft in der Welt. Wir haben angefangen als eine Bruderschaft in Deutschland und sind dabei, hinauszuwachsen über nationale und konfessionelle Grenzen. Wie von selbst stehen wir dadurch vor der Aufgabe, Brücken zu bauen quer durch Nationen und Konfessionen. Es gibt Brüder recht verschiedener Berufe und auch verschiedener Lebensanschauungen. Wir bilden durchaus keinen monolithischen Block, weder in theologischer noch in menschlicher Hinsicht. Wir beginnen erst damit, auch in unserer sozialen Prägung vielfältiger zu werden. Das weist wieder auf den Anfang hin: Der Dienst in der Welt beginnt zu Hause, im engsten Kreis. Unser Kloster Kirchberg dürfen wir nennen als einen Ort, an dem sich Menschen begegnen aus verschiedenen Ständen und Völkern. Ein solcher Ort ist dazu geschaffen, den Frieden Gottes auszubreiten. Das geschieht zunächst durch die geistliche Ordnung des Berneuchener Hauses, dann aber auch durch spezielle Beratungen der Arbeitskreise und durch Tagungen, die Menschen aus gegensätzlichen Positionen zusammenführen. Wir denken an die Begegnung mit Carl Friedrich v. Weizsäcker in Kirchberg, an die dem Frieden gewidmete Tagung und andere mehr. Es gibt beachtliche Veröffentlichungen von Michaelsbrüdern, die Wesentliches beigesteuert haben auf Sachgebieten des öffentlichen Lebens zum Thema Frieden, zum Recht, zum Bauwesen, zur Pädagogik, um nur einige Beispiele zu nennen. Unsere Kraft ist nicht groß; aber wir sind berufen, immer neue Wege aufzuspüren, um unseren Dienst in der Welt recht zu erfüllen. Es wäre ein großer Gewinn, wenn wir in der Besinnung auf unser Jahresthema deutlicher erkennen als jetzt, was wir zu tun und zu lassen haben, um unserem Auftrag, wie ihn die Urkunde vorzeichnet, gerecht zu werden.

Quatember 1984, S. 16-20

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-08
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