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So werdet nun Nachahmer Gottes!
von Wilhelm Stählin

Eph. 4, 17-5, 21

LeerWir bitten, bei dieser Einführung in den Epheserbrief die Anmerkungen im Weihnachtsbrief (S. 2) und im Osterbrief (S. 80) zu beachten. Wilhelm Stählin.

LeerDas göttliche Geheimnis, in das wir uns anbetend versenkt haben, umfaßt Erde und Himmel und es greift gewaltig ein in unser Leben. Immer schon zielte, was ich euch schrieb, darauf, euch zu sagen, unter welcher Verpflichtung ihr steht, und wie sich Gottes Geheimnis auswirken und darstellen will in eurem alltäglichen Leben. Der heilige Ruf, mit dem uns Gott berufen hat, bringt in jedes menschliche Leben eine radikale Wendung. Er läßt den Menschen nicht, wie er ist; ihr könnt nicht wohnen und leben in dem großen und weiten und herrlichen Christusraum, ohne daß Christus euch selbst, euer Leben mit all seinen Beziehungen und Aufgaben durchdringt und heiligt. Davon will ich jetzt endlich mit ausdrücklichen Worten reden; und was ich sage, sage ich mit dem ganzen Ernst, der dem Zeugen Christi gebührt, und ich sage es mit ganzem Nachdruck als zu Menschen, die gleich mir in diesen Christus eingefügt und eingepflanzt sind.

LeerDer Ruf Gottes hat Besitz ergriffen von eurem Leben; so zu wandeln, wie es diesem Ruf, seiner Verheißung und eurer Hoffnung gemäß ist, das ist nun eure große und heilige Verpflichtung. Ein neues Menschentum will in euch Gestalt gewinnen. Wie einer, der das alte beschmutzte und zerschlissene Gewand abtut und ein neues reines und ehrenvolles Kleid anlegt, so sollt ihr den alten Menschen von euch abtun und euch in das Bild des neuen Menschen kleiden. Ihr versteht wohl, daß damit nicht etwa äußere Form oder äußerer Schein gemeint ist; es ist vielmehr eine Wandlung, die in dem innersten Kern eures persönlichen Wesens sich vollzieht, eine Wandlung, die nicht ihr selber vollbringt, die ihr aber als ein Werk des göttlichen Geistes an euch geschehen laßt.

LeerWenn ich das Bild des alten Menschen zu zeichnen versuche, so beschreibe ich den Weg, auf dem ihr selber früher gewandelt seid. Aber es ist nicht nur eure Vergangenheit, die ich damit beschreibe. Es ist der Weg der ganzen Völkerwelt, die von dem Licht der göttlichen Offenbarung noch nicht erhellt ist; es ist die Menschheit ohne Christus; es ist der heidnische Weg des natürlichen Menschen überhaupt. Darum ist es auch nicht nur eure Vergangenheit; es ist der Mensch in seiner natürlichen Triebhaftigkeit und Vitalität, die auch in unserer christlichen Existenz nicht aufhört, und es bleibt darum die dauernde Aufgabe für euch und uns alle, diesen alten Menschen auszuziehen und die Wandlung in das Bild des neuen Menschen mit ganzem Ernst zu suchen.

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LeerDer alte Mensch ist vor allem ein Mensch ohne echte Erkenntnis. Sein ganzes Denken mag verstandesmäßig klar sein und ist doch in einem tiefen Sinn verfinstert; er schaut nicht durch auf den wahren Lebenssinn, und er vermag darum auch seinen eigenen Weg nicht wirklich zu erkennen. Er lebt in den Vordergründen, in denen sich unser äußeres irdisches Leben abspielt und ist ganz dieser Scheinwelt hingegeben. Diese Unwissenheit oder vielmehr Unweisheit herrscht wie eine unheimliche Macht in ihm und bewirkt, daß alles, was er sinnt und tut, notwendig und unausweichlich verkehrt wird. Denn hier ist die innerste Triebkraft aller Lebensgestaltung ein unersättlicher Lebenshunger. Der Mensch begehrt; er will haben, er will leben und sein Leben genießen. Das Leben ist Selbstzweck, und die äußeren Guter, die man haben kann, werden nur als Mittel der Lebenssteigerung gewertet. Dieser Lebenstrieb ist in sich schrankenlos; nichts ist, was ihm von innen her Grenze und Maß auferlegt. Was man, im engeren Sinn, Unzucht nennen mag, ist nur Auswirkung und Erscheinungsform eines ganz innerlichen Mangels an Zucht.

LeerAber es ist ein unheimliches und unerbittliches Gesetz: daß der unersättliche Lebenshunger den Menschen in Wirklichkeit immer tiefer dem wahren Leben entfremdet. Die begehrende Stimme unserer eigenen Vitalität führt uns in die Irre. Wer sich ihr anvertraut und übergibt, wer also bloß der Stimme seines Blutes zu folgen entschlossen ist, in dem geschieht eine seltsame Wandlung, die alle tiefere Ordnung des Lebens in ihr Widerspiel verkehrt. Wenn der Mensch den Ansprüchen dieses seines Verlangens nach Leben und Genuß keinen Widerstand mehr entgegensetzt, wird zugleich sein innerstes Wesen hart, stumpf und unempfindlich für den wahren Lebensstrom, der durch ihn hindurchgehen möchte. Sein ganzes Leben wird unter den Fluch der Sinnlosigkeit gebeugt. Bei aller vitalen Kraft und gesteigerten Leistung bleibt doch alles ein erschreckender Leerlauf, und über dem ganzen Leben lastet eine tiefe Traurigkeit wie über einer herbstlichen Landschaft. Das Habenwollen und Lebenwollen ist der große Selbstbetrug des natürlichen Menschen; der Fluch der Selbstzerstörung und der Geruch der Verwesung lauert über dieser ganzen Welt.

LeerDies ist der alte Mansch, den ihr „ausziehen” sollt, ablegen und von euch schleudern wie jenes Gewand im Märchen, das den, der es trägt, ganz und gar verbrennt. Statt dessen sollt ihr den neuen Menschen anziehen, der euch verwandelt in das Christusbild. Dies Christusbild verwirklicht den ursprünglichen Schöpfungsgedanken Gottes, der den Menschen schuf zu seinem Bilde. Er verwirklicht die Wahrheit, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist. Alles, was ihr gelernt habt, da ihr die Botschaft von Christus aufnähmet, zielt auf dies eine, daß in diesem Christus euer eigenes Dasein einen neuen Raum und eine neue Gestalt gewinnt. Den in Christus urbildlich verwirklichten Sinn unseres menschlichen Seins sollt ihr, dürft ihr mit eurem eigenen Leben bezeugen. Dann, dann erst hat euer Leben seine ihm bestimmte Ordnung gewonnen; die Unreinheit aller natürlichen Vitalität wird verwandelt durch die Ausstrahlung der göttlichen Heiligkeit, und ihr werdet vollendet, wie Gott euch meinte und wollte.

LeerIch muß sehr nüchtern davon reden, wie sich dies Bild des neuen Menschen darstellt in den Aufgaben und Beziehungen des alltäglichen Lebens. Nur diese Nüchternheit bewahrt uns davor, daß wir uns von den Traumbildern einer christlichen Heiligkeit umgaukeln lasten, die sich von der Wirklichkeit unserer alltäglichen Existenz völlig entfernt.

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LeerWir Menschen sind für einander geschaffen, auf einander angewiesen wie Glieder eines Leibes. Diese ursprüngliche Verbundenheit ist durch die Sünde entstellt und in ein grauenhaftes Widereinander, in einen Kampf aller gegen alle verzaubert. Christus aber stiftet neue Gemeinschaft und stellt die ursprüngliche, gottgewollte Gliedhaftigkeit unseres menschlichen Lebens wieder her. Was aber zerstört eigentlich im letzten Grunde diese Einheit des einen Leibes? Warum gibt es auf dem Boden der bloßen Vitalität kein echtes Miteinander? Darum, weil die Menschen dem Trug verfallen sind; wie sie sich selbst täuschen, so müssen sie auch einander belügen: sie tragen lauter Masken vor einander und begegnen einander in einer konventionellen Scheinwelt.

LeerDie Sprache, bestimmt, daß wir einander in Wahrheit begegnen, zu einander reden und auf einander hören, wird zu dem raffinierten Mittel der Verhüllung, ja selbst der arglistigen Täuschung. Daß einer den anderen nicht mehr versteht, ja keiner dem anderen trauen kann, ist die böse Frucht, die aus dieser schlimmen Saat wächst. Diese ganze Welt des Truges müßt ihr von euch werfen; wenn ihr mit eurem ganzen Wesen der Wahrheit gehorsam geworden seid, werdet ihr auch mit euren Worten der Wahrheit dienen. Das heißt nicht nur, daß ihr in all eurer Rede euch der strengsten Wahrhaftigkeit befleißigt, daß ihr es waget, die Masken abzulegen und einander ganz ehrlich zu begegnen; sondern auch eure ganze Redeweise bis in das alltäglichste Gespräch hinein wird zu einem Zeugnis der befreienden Wahrheit werden; ihr werdet mit euren Worten ebenso wie mit eurem Tun die Wahrheit verwirklichen.

LeerWie sehr zerstört der Mensch sich selbst und seine menschlichen Beziehungen, wenn er dem Zorn verfällt! Aller Zorn und Haß aber kommt aus einer heimlichen Angst, aus der Angst um unsere eigene Ehre, ans der Furcht, das; der andere unserem eigenen Lebenswillen im Wege steht. Meidet die Verirrung und Versündigung, die aus eurem Zürnen kommt! Und wenn euer Herz von Zorn erfüllt ist, so löschet, ehe die Sonne untergeht, dies unheilige Feuer, damit es sich nicht in der Stille der Nacht tiefer einbrenne in euer ganzes Wesen! Lasset keinen Riß entstehen in der heiligen Mauer, die den Frieden und das Heil eurer Seele schützt, damit der böse Feind keine Einbruchsstelle findet, durch die er Macht über euch gewinnen kann!

LeerDie ungebändigte Begierde nach den Gütern und Genußmitteln des irdischen Lebens will euch immer wieder dazu verführen, daß ihr euch gelüsten lasset nach dem, was des andern ist, daß ihr eure Hände ausstreckt nach dem, was euch nicht gehört. Raub oder Diebstahl in seiner groben Form ist vielleicht nicht eure Versuchung. Dennoch warne ich euch vor jedem Schritt auf diesem gefährlichen Wege. Auch dies ist ein Kennzeichen des neuen Lebens, daß ihr mit unverdrossener Mühsal, mit dem Werk eurer Hände, im Schweiß eures Angesichts euer Eigenes schafft, das euch unabhängig macht von fremder Hilfe, ja euch selbst die erwünschte Freiheit und Möglichkeit gewährt, denen zu geben, die nicht haben, denen zu helfen, die der Hilfe bedürfen. Der Lebenshunger will haben und nehmen, die Liebe will geben.

LeerWahret Zucht in all euren Worten! Inhaltloses Gerede, leeres und liebloses Geschwätz, schlüpfrige und zweideutige Worte sollen nicht über eure Lippen kommen. Vergesset nicht, daß eure Worte nach Gottes Willen ein Werkzeug seines Gnadenwillens sein sollen, ein Ausdruck und Träger der beglückenden Schönheit und Anmut, die aus der himmlischen Welt zu uns kommt! Ihr sollt reden, nicht um euch und eure Gefühle zu entladen, auch nicht, um dem anderen einen guten Eindruck zu machen, sondern um ihm zu helfen da, wo seine Seele Not leidet; eure Worte seien wie Bausteine, die ihr herantraget, damit der heilige Bau Gottes vollendet werde.

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LeerTut ab von euch alles, was aus einem lauten und ungeordneten Wesen, was aus der Leidenschaft, aus dem Zorn, aus der Verbitterung stammt, alles, was einem bösen Willen dient, was einer heimlichen Freude an übler Nachrede, an verletzender Kränkung entspringt. Statt dessen bewähret an einander Freundlichkeit, Milde, Gütigkeit; euer Innerstes soll entbrennen, einander wohlzutun; ihr sollt zu einander kommen wie Strahlen der göttlichen Gnadensonne, deren belebende und erwärmende Kraft ihr an euch selber erfahren habt. Mit einem Wort: werdet Nachahmer Gottes! Laßt das göttliche Urbild aller Güte in euch Gestalt gewinnen! Bewähret, daß ihr seine Kinder seid, laßt es spüren, daß ihr von seiner Liebe überwältigt seid! Machet in eurem ganzen Leben Ernst damit, daß Christus euch geliebt hat, daß in ihm Gottes Liebe euer Leben berührt hat, und lebet nun ganz und gar in diesem Raum der Liebe! Tretet ein in das priesterliche Amt, das in Christus ein für allemal vollendet ist! Er hat sich selbst Gott hingegeben in liebendem Gehorsam. Der Rauch, der von unzähligen Opferaltären aufgestiegen ist und aufsteigt zur Ehre und zum Lobe Gottes, ist nur ein schwaches irdisches Sinnbild für dies eine und einzige Opfer, das wirklich Gottes Wohlgefallen und die Freude der himmlischen Welt erweckt. Lasset auch euer Leben um Christi willen und durch Christus ein solches Gott wohlgefälliges Opfer des Lobes und des Dankes sein!

LeerAlles in allem: das göttliche Geheimnis, das erschienen ist in Christus, will in eurem Leben Gestalt gewinnen. Eben dies ist das Werk des Heiligen Geistes, der schon von euch Besitz ergriffen hat, und den ihr als Gottes heilige und verpflichtende Gegenwart in euch spürt. Gottes heiliger Geist ist das Siegel, das eurem Menschenwesen aufgeprägt ist. Dies göttliche Siegel ist das Pfand, daß Gott in euch sein Werk begonnen hat und daß er es ganz und gar vollenden wird. Ihr sollt und ihr werdet gänzlich frei werden von all dem, was euch noch bindet an die gottfeindliche Welt. Verletzet nicht das Siegel, mit dem ihr versiegelt seid! Der Geist Gottes wird verwundet und leidet Schmerz, wenn ihr dem alten Menschen in euch Raum gebt. Haltet das Siegel unverletzt!

LeerAber noch einmal muß ich zurückkehren zu sehr nüchternen Beispielen, und muß euch warnen vor allem, das der Nacht zugehört, der ihr entnommen seid. Die Gier, die sich gelüsten läßt, das ungereinigte und ungeheiligte Wesen, die Zuchtlosigkeit der Begierde, die leichtfertige Übertretung der Grenzen, mit denen Gott das Verhältnis der Geschlechter geordnet hat, all dies ist eine Form des Götzendienstes, denn hier verfällt der Mensch den trügerischen Bildern, die uns den Blick auf den Herrn und Schöpfer der Welt verdecken. Er verwechselt das Bedingte und Endliche mit dem heiligen und unbedingten Gott und raubt ihm seine Ehre. Wer diesem Götzendienst verfällt, schließt sich selber aus von dem Leben, das er als Gottes Kind erben sollte in dem Herrschaftsbereich Jesu Christi. Lasset euch durch nichts, durch keine Verführung, durch keine hochtönende Rede über den ganzen Ernst dieses Gegensatzes täuschen! Meidet jede Berührung mit dem, was euer Leben zu vergiften droht! Es ist gefährlich, von diesen Dingen auch nur mehr zu reden als unerläßlich notwendig ist.

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LeerIhr sollt Gottes Gebot nicht zum Problem machen; ihr sollt euch nicht in Diskussionen darüber einlassen, ob etwa dies und jenes doch sehr schön, sehr angenehm sei, zur vollen Lebensentfaltung gehöre, vielleicht sogar dem Willen Gottes gemäß sei, während ihr doch wißt, auf welch gefährliche Wege ihr euch mit solchen Unterhaltungen begebt. Meinet nicht, ihr müßtet euch, unter welchem Vorwand auch immer, mit allen Nachtseiten des menschlichen Lebens befassen und allen trüben Schlamm aufrühren. Mögen andere Freude haben, schmutzige Späße zu machen, mit törichtem Geschwätz sich zu unterhalten, mit geistreichem Witz Scham und Ehrfurcht zu verletzen; mögen sie das tun Und damit sich und andere gefährden; ihr sollt wissen und keinen Augenblick vergessen, was den Heiligen Gottes geziemt. Denn all diese Dinge sind eine Form des Ungehorsams, und über all denen, die den Giftsamen dieses letzten Ungehorsams in sich tragen, ist der schreckliche Zorn Gottes im Gange. Wollt ihr ihm nicht verfallen, so scheidet euch von dieser ganzen Welt des Verderbens. Ihr könnt nicht die Welt in Ordnung bringen, ihr könnt die nicht heilen, die nicht genesen wollen; aber dies eine könnt ihr: Abstand halten. Noch einmal sage ich: lasset statt dessen die Schönheit und Güte Gottes euer ganzes Leben durchströmen, daß all euer Leben und Tun ein Abglanz Seiner Schönheit und ein Lob Seiner Gnade sei.

LeerLaßt mich schließlich den Gegensatz des alten Menschen, den ihr ausziehen, und des neuen Menschen, den ihr anziehen sollt, zusammenfassen in dem einen Bild von Finsternis und Licht. Ihr kommt aus der Nacht und steht nun im Licht. Euer Leben gehörte, solange ihr eurem natürlichen Lebenswillen unterworfen wart, der Finsternis dieser Weltzeit an. Nun aber, da Christus, der Herr der Welt, auch euer Herr geworden ist, gehört ihr dem neuen Weltentage an, der mit Christus angebrochen ist. In dem hellen Licht dieses Morgens wird die Finsternis der Welt erst recht offenbar. Es ist dem Bösen eigentümlich, daß es sich verbergen will, daß es sich maskiert und mit dem Schein des Guten und Edlen umhüllt. Im Licht aber kann sich nichts verbergen, sondern es wird alles offenbar in seinem wahren und wirklichen Wesen. Dies ist nun auch euer Beruf, ein Licht zu sein in dieser Welt und ihr widergöttliches Wesen zu entlarven. Ihr werdet diesen euren Beruf erfüllen, wenn ihr euch selbst in eurem ganzen Wandel von diesem Licht durchdringen und wandeln laßt.

LeerDie neu-schaffende Kraft des Lichtes will auch in eurem Wandel fruchtbar werden: die Gutheit, die Gottes Ebenbild ist, die Ordnung, in der Gottes heiliger Wille erfüllt ist, die Wahrheit, in der sich der ewige Lebenssinn selbst verwirklicht, dies ist der neue Lebensraum, in dem die Lebensmacht des göttlichen Lichtes fruchtbar wird und sich fortzeugend erneut. Von Früchten der Finsternis zu reden, wäre Widersinn. Die Finsternis ist im tiefsten Sinn unfruchtbar. So wie die Sünde zwar störend in den Lebenszusammenhang eingreifen kann, der auf Zeugung und Geburt zielt, aber niemals den unfruchtbaren Schoß zu einem fruchtbaren machen kann, so muß, solange der Mensch zu diesem Nachtreich gehört, alles, was er tut und bewirkt, im Grunde immer Lebenszerstörung, nicht Zeugung und Fruchtbarkeit sein. Ihr aber, habt damit nichts zu schaffen! Die christliche Stunde ist die Stunde des Morgens. Darum birgt der Morgenhymnus, der euch vertraut ist, den tiefsten Sinn unserer ganzen christlichen Existenz:
Wache auf der du schläfst,
und steh auf aus den Toten,
so wird über dir leuchten der Christus.
LeerWenn es eine Grundregel für das Leben der Christen in dieser Welt gibt, so läßt sie sich ablesen aus diesem Bild: die Nacht ist vergangen, der Morgen ist angebrochen. Dieses ist der Inhalt der Weisheit, die euch geziemt. Lasset euch nicht berücken durch alles Gerede von der Schönheit dieses Lebens und von der Größe und Herrlichkeit der Zeiten! Wisset ein für allemal, daß die Tage dieser Weltzeit von Mühsal und von der Macht des Bösen erfüllt sind. Prüfet mit aller Vorsicht jeden Schritt eures Wandels, daß ihr nicht Irrlichtern nachjagt, sondern eure Füße auf gewissen Grund setzt! Dringt immer tiefer ein in das Verständnis des göttlichen Willens, statt immer tiefer zu versinken in Unverstand und Torheit. Begreift den Sinn der Stunde und nützet die euch gegönnte Frist, damit ihr nicht gleich den törichten Jungfrauen klagen mußt über versäumte Gelegenheiten. Seid nüchtern. Trunkenheit gehört zur Nacht. Dem hellen Tag ziemt Nüchternheit. Wer sich mit Rauschtrank betrinkt, bringt sein Leben in Unordnung, und das Kraftgefühl, mit dem er sich selbst belügt, wandelt sich in Lebenszerstörung. Aber die körperliche Trunkenheit ist selbst nur ein Sinnbild für alle jene Rauschzustände der Seele, da sich der Mensch an Gedanken viel schlimmer als an Wein betrinkt. Verschmähet den Trug dieses Rausches!

LeerFreilich, wir Christen kennen auch eine Trunkenheit. Wir meinen nicht, die nüchterne Verständigkeit, die alles und jedes unter Vernunft und Bravheit beugt, sei das höchste Ideal. Lasset euch erfüllen von dem Feuertrank des göttlichen Geistes, der zugleich die höchste Nüchternheit und den kühnsten Aufschwung der Seele verleiht. Daß ihr einander begegnet in Liedern und Lobgesängen, daß aus eurem innersten Wesen hervorbricht das schön klingende Gotteslob, daß euer Wandel selber ein Morgenlied werde, mit dem ihr den aufgehenden Tag begrüßt: dies sei der von dem göttlichen Geist erweckte Überschwang, mit dem ihr der Trunkenheit einer schlafenden Welt begegnet. In allem und überall sei euer Leben ein Dank; jedwedes, was euch widerfährt, kann euch ein neuer Anlaß werden, Gott zu loben. Ihr seid genannt und gezeichnet mit dem Namen unseres Herrn Jesus Christus. Er hat euch aus der Fremde heimgeholt, so daß ihr immer und in allen Stücken nun euer Leben heimbringen könnt als ein Lobopfer für Gott, der unser Vater ist.

Evangelische Jahresbriefe 1937, S. 116-122

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-24
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