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von Friso Melzer |
„Quatember” hat im vorigen Johannisheft einen Bericht von Dr. Forrester-Paton gebracht. Ihn soll mein Bericht über einen Besuch in seinem Ashram zu ergänzen versuchen. Im Sommer 1935 hatte ich als Principal des Malabar Christian College in Calicut, der Hauptstadt Malabars, meinen missionarischen Dienst in Südindien begonnen. Im Herbst fuhr ich mit einer Gruppe unserer christlichen Studenten zu einer regionalen Tagung der Christlichen Studenten-Bewegung nach Cochin, dem kleinen Staat zwischen der damals britischen Provinz Malabar und dem damaligen Königreich Travancore. Dort trafen sich im Inland Studenten aller drei Länder, die durch die gemeinsame Sprache miteinander verbunden waren. Doch sprachen wir kaum Malayalam, sondern Englisch. Einer der drei anwesenden Weißen war ein Arzt - Dr. Paton, wie er sich kurz nannte. Er trug indische Kleidung. Ihm gegenüber fühlte ich mich in meiner westlerischen Kleidung - auch wenn ich in Shorts war - recht fremdländisch. Dieser Begegnung verdanke ich, daß ich, nach Calicut zurückgekehrt, sofort indische Kleidung anlegte. Aber das war nur etwas Geringes. Was uns überwältigte, war, wie Dr. Paton über Gottes Liebe sprach. Er redete nicht über die Liebe, sondern, indem er sprach, strahlte er sie aus. Nicht nur während er sprach, sondern in seinem Umgang mit den jungen Indern war er ein lebendiger Beweis für die Gegenwart Gottes als des liebenden Vaters. Auf dieser Freizeit lud er mich ein, gelegentlich seinen Ashram zu besuchen. Zwei Jahre später konnte ich dieser Einladung folgen. Ich hatte eine Reihe theologischer Gastvorlesungen am United Theological College in Bangalore gehalten, hatte von dort einen Abstecher nach Madras gemacht - meinen einzigen Besuch in der Hauptstadt der großen Madras-Presidentschaft - und unterbrach meine Rückreise nach der Westküste, um Dr. Patons Ashram zu besuchen. Mit einem Ochsenwagen fuhr ich weit aus dem Ort hinaus in eine köstliche grüne Landschaft hinein: Hügel umsäumten sie in der Ferne und sandten einen frischen Luftzug herab, so daß der Weiße des Nachts kein Moskitonetz nötig hatte. Hier hatte noch keine westliche „Kultur” die Inder zu europäisieren begonnen, hier gab es auch noch keine Missionsarbeit. Hier hatte Dr. Paton mit einem Glaubensbruder, dem indischen Arzte Dr. Yeshudasan (d. h. Jesus-Diener), ein Ashram gegründet. Für diese Arbeit hatte er sein väterliches Erbe drangegeben. Die Siedlung dieses Ashrams wird baukünstlerisch wie auch geistlich durch ihre Gebetshalle (oder Kirche) im indischen Stil bestimmt. Der Gast schreitet durch ein Gopuram, ein Tor, dem hinduistischen Tempeltorturm nachgebildet. Aber sein Auge muß nicht die steinernen Gestalten der Hindu-Mythologie erblicken - diesen tropisch wimmelnden Aufmarsch aus dem Reich der Natur-Religion -, sondern biblische und allgemein-kreatürliche Zeichen grüßen ihn. Auf dem Vorplatz befindet sich ein kleiner flacher Teich. Der Fromme schreitet durch das Wasser, um seine bestaubten Füße zu reinigen, nachdem er seine Sandalen gleich an der Pforte innen abgestellt hat. Dann steigt er über Steinplatten unmittelbar in die Halle, die dem Gebet geweiht ist. Wie wunderbar kühl ist es in dieser Halle! Säulen aus Stein tragen ein Dach, und auch das Dach besteht aus Steinplatten. Die Wände fehlen, nur die Altarseite ist geschlossen. Aber die beiden Längsseiten geben den Blick in die Landschaft frei. Hier offenbart sich ein besonderer Zauber der Anlage: Die Morgenandacht wird zur Zeit des Sonnenaufgangs gehalten, die Abendandacht bei sinkender Sonne. Da wir nahe am Äquator sind, bedeuten diese Ordnungen nichts Veränderliches. Die Glocke ertönt! Wir durchschreiten das Tor, legen die Sandalen ab und gehen durch das Wasser. Über die steinernen Stufen betreten wir die kühle Halle und setzen uns auf dem Fußboden, der gleichfalls aus Steinplatten besteht, auf eine geflochtene Matte nieder. Wir blicken gegen Abend hin und sehen den feurigen Ball der Sonne zum Horizont herabsinken. Ihr goldenes Licht ergießt sich über die Landschaft, über Reisfelder, Palmenhaine und die Hügel in der Ferne. Menschen, die des Morgens wie abends nach solcher Ordnung leben, verspüren die Führung ihres Herrn bis in die kleinen Dinge ihres alltäglichen Lebens herein. Da ich gegen Abend im Ashram eintraf, war die Andacht mein erstes Erleben. Gleich darauf hatte ich das zweite Erlebnis, das in alle Zukunft für mich mit dem Namen dieses Ashrams verbunden bleiben wird. Dr.Paton war abwesend. So konnte ich nur Dr. Yeshudasan sprechen. Der überraschte mich mit einer merkwürdigen Aussage. „Morgen nach Ihrem Vortrag”, so sagte er, „werde ich mich an der Aussprache nicht beteiligen.” Ich blickte ihn überrascht und fragend an. „Ja”, sagte er, „ich werde den Vortrag zwar anhören, werde auch bei der Aussprache zugegen sein, aber ich werde selbst kein Wort sprechen.” Das ist aber seltsam, dachte ich. In theologischer Hinsicht sind wir in vielem verschieden, und ich erwartete, weil ich damals noch das theologische Denken für das Wichtigste hielt, eine lebhafte Aussprache, ja, ich freute mich besonders, gerade mit diesem Manne ein Gespräch zu haben. Und nun sagte er bereits von vornherein ab. So fragte ich ihn, weshalb er das tue. Er erklärte mir, und ich verstand sofort, weswegen er nicht sprechen würde. Ich verstand ihn nicht nur, sondern ich wurde einfach von Bewunderung erfüllt. Dr. Yeshudasan sagte: „Sehen Sie, jeder von uns beiden Ärzten hält einen Tag in der Woche als Schweigetag. Und morgen ist mein Schweigetag.” Darauf meine Gegenfrage: „Wozu haben Sie diese Einrichtung getroffen?” Er antwortete: „Der Alltag ist so voller Unruhe und mannigfaltiger Arbeit, daß unsereiner hin und her gerissen wird und die innerste Sammlung verliert. Auch die morgendliche und abendliche Andacht genügt uns beiden nicht. Da haben wir miteinander diese Ordnung aufgestellt. Oder richtiger: da ist uns die Erkenntnis solcher Ordnung geschenkt worden.” „Am Vormittag ziehe ich mich zurück und nehme nur die Bibel mit. Ich verbringe jede Woche einen halben Tag unter der Bibel und im Gebet.” „Und was tun Sie am Nachmittag?” Ich konnte meine Neugierde kaum zügeln. „Am Nachmittag gehe ich wieder ins Krankenhaus.” „Aber wie wollen Sie schweigend arbeiten - als Arzt?” „Ich habe Gehilfen, die verstehen, wenn ich mit den Händen Zeichen gebe.” Nachdem ich alles bis ins Einzelne erklärt bekommen und verstanden hatte, wagte ich die bezeichnend abendländische Frage: „Aber, Dr. Yeshudasan, wie können Sie sich für einen halben Tag von den Kranken zurückziehen? Die warten doch auf Ihre Hilfe!” „Ja”, sagte er mit einem seltsamen Lächeln, „da warten viele Kranke auf uns. Sehen Sie”, und er wies mit der Hand ins weite Land hinaus, „da können Sie tagelang reisen und werden kein Krankenhaus finden. So kommen die Kranken oft einen weiten Weg zu uns. Jeden Abend bleiben ihrer viele liegen und warten auf den andern Tag. Fertig werden wir hier nie.” „Und da wagen Sie, dann noch einen halben Tag den Kranken Ihre Hilfe zu entziehen?” „Eben um der Kranken willen tun wir das. Denn sehen Sie”, sagte er voller gewinnender Güte zu mir, „wir sind nicht hier, nur um Kranke zu heilen. Sondern verstehen Sie bitte unsere Arbeit recht: unser ärztlicher Dienst soll im Namen Jesu Zeichen errichten, daß die Menschen für Seine Botschaft wach werden, Wir wollen nicht nur den Leibern helfen, sondern dem ganzen Menschen. Dazu brauchen wir Geduld und Liebe, dazu brauchen wir aber auch Zeit. Wir lehnen jegliche Hetze ab. Was heute nicht fertig wird, das geschieht eben morgen. Wichtig ist jedoch, daß wir, wann immer wir zum Dienst gehen und zu den Kranken hintreten, in der Vollmacht des Erlösers gehen. Damit wir dazu fähig werden und fähig bleiben, dazu brauchen wir den Schweigetag.” Da ging mir auf, weswegen Jesus in Seinen Erdentagen nicht alle Kranken geheilt hatte, die Ihm begegnet waren: Seine Wundertaten wollten nur Zeichen sein, damit die Menschen Seinem Wort glaubten. Mir wurde aber auch deutlich, wozu Jesus manche Nacht einsam im Gebet verbrachte. Quatember 1954, S. 104-106 |
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