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Der Abend
von Wilhelm Stählin

LeerWenn in unseren Gesangbüchern ein Abschnitt die Überschrift trägt „Die Tageszeiten”, so sind doch unter diesen Liedern die einzelnen Tageszeiten in einer sehr verschiedenen Weise vertreten. Der Nacht, der eigentlichen Nacht, gehört fast nur das Lied von Gerhard Tersteegen zu „Nun schlafet man, und wer nicht schlafen kann, der bete mit mir an den großen Namen” (vergl. S. 6 im ersten Heft dieses Jahrgangs unserer Blätter), und unter dem Stichwort Mittag finden sich zumeist nur Tischlieder; das herrliche Mittagslied „Die Sonne strahlt vom Himmelszelt, daß sie den Mittag kröne”, hat in unseren Gesangbüchern keine Aufnahme gefunden (vielleicht weil zumeist keine Gelegenheit sein wird, ein solches Lied zu singen, das zwar auf die Mitte des Tages, aber grade nicht auf das tägliche Brot bezogen ist). Nur die Lieder für Morgen und Abend quellen in überströmender Fülle, und über den reichen Schatz hinaus, den unsere Gesangbücher hier enthalten, lassen die in früheren Jahren aus unserem Kreis heraus dargebotenen beiden Sammlungen geistlicher Morgen- und Abendlieder erkennen, wie sehr für unsere Väter der Morgen und der Abend wirklich ein Anlaß zu singen und zu beten gewesen ist. Indes ist hier ein Unterschied, der tiefe Ursachen hat und zu ernstem Nachdenken Anlaß bietet. Während die Morgenlieder fast durchweg auf einen Ton (oder einige wenige Töne) gestimmt sind, den Dank für die Ruhe der Nacht, den Weckruf zum „Werk des wachen Tages” und die Bitte um Gottes Geleit ( „Treib unsern Willen, Dein Wort zu erfüllen”), sind unsere Abendlieder von einer viel größeren Mannigfaltigkeit der Stimmen und Stimmungen erfüllt; sie gleichen einem Abendläuten, in dem ganz verschiedene Glocken ihre leichten und hellen und ihre schweren und dumpfen Klänge miteinander vereinen. Kann diese unbezweifelbare Tatsache anders gedeutet werden, als daß der Morgen eindeutiger auf Christus, den hellen Morgenstern, bezogen ist, und der uns immer aufs neue geschenkte Tagesbeginn als eine Verheißung des ewigen Tages, als ein Morgenglanz der Ewigkeit erfahren wird, während der Abend in viel stärkerem Maß teilhat an der Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit aller innerweltlichen Erfahrungen und aller kosmischen Bilder? Wenn wir als Christen den Abend begehen, können sehr verschiedene Bilder mit widerspruchsvollem Sinngehalt aufsteigen, weil das Widerfahrnis des Abends selbst im Widerstreit steht mit dem über uns aufstrahlenden Christuslicht, in dem wir aufwachen und „recht aufstehn” dürfen.

LeerEs gehört zu diesem Widerfahrnis des Abends, daß wir einschwingen in den großen Rhythmus der Natur, die auf das helle Licht das Dunkel, auf die tätige Entfaltung des Lebens die Ruhe und das Schweigen der Nacht folgen läßt: „Die dunkle Nacht dringt allenthalben zu, bringt Mensch und Tier und alle Welt zur Ruh”. Wir empfinden es als eine alberne Geschmacklosigkeit, wenn man in der Zeit der Aufklärung auf Grund des gelehrten Wissens von der Relativität unserer Tageszeiten Paul Gerhardts „es schläft die ganze Welt” glaubte korrigieren zu müssen (wie ich selbst vor 25 Jahren aus einem noch gültigen Gesangbuch mitgesungen habe): „Nun ruht schon in den Wäldern, in Städten und in Feldern ein Teil der müden Welt”! Wir nehmen teil an dem, was der ganzen Welt beschieden und bestimmt ist: „Die Nacht ist kommen, darin wir ruhen sollen”. Aber diese Ruhe selbst, in die der Abend uns einlädt und einläßt, ist zweideutig. Es ist nicht die Ruhe der Vollendung, in der Gott „ruhte” von allen seinen Werken, nicht jeder sabbatismos, der dem Volk Gottes verheißen ist (Hebr. 4, 9), sondern es ist zunächst der Zoll, den wir als sterbliche Menschen der Schwachheit unseres Leibes und unserer Seele zu zahlen haben. Wir sind müde geworden; der Leib „eilt zur Ruhe”, weil „das Haupt, die Fuß' und Hände sind froh, daß nun zum Ende die Arbeit kommen sei”. Aber zugleich lädt der Abend ein zu jener Stille, in der Unrast und Lärm um uns und in uns zum Schweigen gebracht sind und die von dem lauten Tag überdeckten leisen Stimmen vernehmbar werden. Matthias Claudius hat in seinem Abendlied dieser Stille und der darin aufblühenden Besinnung einen unvergleichlichen Ausdruck gegeben. Aber damit die Stille nicht leer sei und damit, wenn die Geräuschkulissen hinweggezogen sind, nicht allerlei schreckhafte Spukgestalten, Ängste und verwirrende Phantasien aus den unheimlichen Tiefen aufsteigen, muß die Stille eine „Stille zu Gott” werden, in der das innere Ohr aufgetan wird; das drückt Tersteegens Vers in klassischer Schönheit aus:
„Die Dunkelheit ist da und alles schweiget / mein Geist vor Dir, o Majestät, sich beuget /
ins Heiligtum, ins Dunkel kehr ich ein / Herr, rede Du, laß mich ganz stille sein!”
LeerAber schon bei dieser ersten Überlegung finden wir uns beschämt und verlegen. Die wenigsten von uns haben die äußere Möglichkeit und die innere Fähigkeit, sich der schönen Müdigkeit hinzugeben, mit der der Abend nach vollbrachtem Tagwerk uns umfangen will, und noch weniger will es uns gelingen, in das „Heiligtum des Dunkels” einzukehren, in dem die lauten Stimmen des Tages der leisen Stimme Gottes Raum geben. Unsere schönsten Abendlieder muten uns an wie ein Klang aus einer verlorenen und versunkenen Welt, und wenn wir sie zu beten versuchen, erschrecken wir vor der Anklage, die sie erheben gegen das, was wir aus dem Abend gemacht haben. Haben wir die Freiheit, diese Anklage mit dem Gegenvorwurf einer altväterischen Abend-Romantik zum Schweigen zu bringen, oder sollen wir die ernsthafte und dringliche Mahnung heraushören, daß Gottes Gebot, das er der Welt und allem Leben eingestiftet hat, ganz und unteilbar ist, und daß also eine radikale Erneuerung unserer Lebensformen zu den Erfordernissen unserer Gesundung gehört: der Abend als Arznei, als ein nicht hoch genug zu preisender Ausgleich gegen die Fehler und Mängel in dem Haushalt unseres leib-seelischen Organismus! Wenn wir viele unserer Abendlieder auswendig lernen (wenn möglich mit ihren kostbaren Melodien auswendig singen lernen!), so werden sie uns wie gute mahnende, warnende und heilende Engel begleiten und uns zu jener Ruhe führen, die etwas anderes ist als bleierne Müdigkeit, und zu jener Stille, in der wir nicht mehr die aufsteigenden Ängste mit Lärm übertäuben müssen, weil sie positiv erfüllt ist mit der ruhigen und tröstlichen Klarheit himmlischer Lichter und Klänge.

LeerEs ist tief in einem christlichen Verständnis und Erleben des Abends begründet, daß unsere Abendlieder immer wieder den geheimnisvollen Gegensatz in Worte fassen, daß, während das äußere Leben um uns her zur Ruhe kommt und wir das Werk unserer Hände niederlegen, unser inwendiges Leben, Seele und Geist, zu einem wachen Werk anderer Art aufgerufen sind:
„Der lieben Sonne Licht und Pracht / hat nun den Tag vollführet /
die Welt hat sich zur Ruh gemacht / tu, Seel', was dir gebühret /
tritt an die Himmelstüre und bring ein Lied herfür...”;

„Werde munter, mein Gemüte, und ihr Sinne, geht herfür!”;

„Mein Auge wacht jetzt in der stillen Nacht /
nun ist mein Herz bedacht, Dich, Gott, zu loben”;

„Obschon die Augen schlafen ein / so laß das Herz doch wacker sein!”.
LeerWährend die Gestalten um uns her in Dämmer und Dunkel zerfließen, und (wie oft!) auch unsere Gedanken im Halbschlaf in Träume zerflattern, rufen unsere Lieder auf zur Sammlung der Seele, zur Einkehr in die Mitte, die wahrlich etwas anderes ist als willensmäßige Konzentration auf die Pflichten des Tages. Es ist jene Einkehr und Heimkehr aller Gedanken, Regungen und Bewegungen des Gemüts in jenen „Ruheplatz”, wo wir auf „nichts Vergängliches” mehr trauen und keine Eitelkeit uns freuen lassen (M. Claudius). Und erst in dieser „Sammlung aller Begierden und Gedanken” wandelt sich die Müdigkeit aus bloßer Erschöpfung aller Kräfte in eine wohltätige und heilsame Ruhe und bereitet sich zu der erquickenden „Ruhe der Nacht”.

LeerDiese „Sammlung” - es gibt wirklich keinen zutreffenderen Namen für diese abendliche Besinnung - ist aber nun durch zwei Merkmale geprägt. So wie wir immer des gegenwärtigen Augenblicks nur in der Rückschau auf das Vergangene und in der Vorausschau auf das Künftige inne werden können, so ist der Abend der Übergang zwischen Tag und Nacht, und darum schließt die Sammlung am Abend immer den Rückblick auf den „eben gewesenen Tag” und die Bereitung zur Nacht in sich. Vor dem Angesicht Gottes, in specie aeternitatis, wird der Blick durch den Tag, der vergangen ist, zum Dank und zur Bitte um Vergebung, der Blick auf die Nacht, die „kommen” ist, zur Bitte um gnädige Bewahrung. Kaum ein einziges Abendlied, das nicht in irgend einer Form den Dank für alle gnädige Hilfe und die demütige Bitte um Vergebung unserer Schuld enthielte.
„Ich preise Dich, Du Herr der Nacht' und Tage /
daß Du mich heut vor aller Not und Plage /
durch Deine Gnad' und hochberühmte Macht /
hast unverletzt und frei hindurchgebracht. -
Vergib, wo ich bei Tage so gelebet /
daß ich nach dem, was finster ist, gestrebet /
laß alle Schuld durch Deinen Gnadenschein /
in Ewigkeit bei Dir verloschen sein.”
LeerKeine Ordnung des Abendgebetes (oder des Nachtgebetes), das nicht als einen unentbehrlichen Bestandteil in sich das Bekenntnis enthielte, daß wir „gesündigt haben in Gedanken, Worten und Werken”; daß nur nicht über einem formelhaften Bekenntnis umfassender Schuldverstrickung die konkrete Selbstprüfung und das ehrliche Eingeständnis bestimmter Verfehlungen, Niederlagen oder schlimmerer Ausbrüche des Bösen versäumt werde!
„Womit wir han erzürnet Dich, dasselb' verzeih uns gnädiglich!”
LeerIch weiß ja zwar nicht alles, aber doch vieles, womit ich Gott erzürnet habe, und will es nicht schweigend in dem großen Sack „Sünde” verstecken. Auch dies gehört zur Sammlung, Einkehr und Heimkehr am Abend. - Nicht minder aber das andere, daß wir uns für die Nacht dem gnädigen Schutz Gottes befehlen. Zwar, das „Grauen der Nacht” meinen wir mit künstlicher Beleuchtung und allen möglichen Sicherheiten vertrieben zu haben, freilich um den Preis, daß die Ur-Angst der Kreatur in um so unheimlicheren Gestalten sich der Seelen bemächtigt. Aber die Bewußtlosigkeit, der wir uns im Schlafe liegend überlassen, schaltet zugleich alle Möglichkeiten bewußter Disziplin, sozusagen aller Kontrolle am Tor unserer Seele aus; und das Beängstigende dieses Zustandes ( „dieweil wir uns nicht können wehren” heißt es in einem Abendlied von dieser nächtlichen Ohnmacht) wird dadurch, daß wir auch bei Tag diese Kontrolle und Disziplin weithin versäumen, zwar zugedeckt, aber keineswegs aufgehoben. Unsere Lieder reden in einer nüchternen und handfesten Art von diesen nächtlichen Bedrohungen, nicht nur von „Feuers- und Wassersnot”, sondern auch und vor allem von den „unreinen Geistern”, die sich unser in unseren Träumen bemächtigen können, von schädlichen Träumen und nächtlichen Phantasien, und in dem allem von „des Teufels List, der stets nach unserer Seelen tracht”. Genau diese Ohnmacht, in der wir unserer selber noch weniger mächtig sind als in unserem Wachen, ist der Ort, wo die Engel am Werk sind, uns zu behüten. Zwar fehlt die Bitte „Deinen Engel zu mir sende” nicht durchaus in unseren Morgenliedern, aber unsere Abendlieder sind zu einem großen Teil zugleich Engelgebete. Wenn der „Engel” immer dasjenige in uns denkt, was wir selbst nicht zu denken vermögen, wenn er uns bewahrt in der Gefahr, die wir selbst nicht erkennen, wenn er uns wider unseren eigenen Sinn und unsere Torheit an den Ort bringt, der uns bestimmt ist (2. Mose 23, 20), dann ist deutlich, warum unsere Abendlieder in vielstimmigem süßem Chor die Bitte wiederholen und variieren „durch Deine Engel die Wacht bestell', daß uns der böse Feind nicht fäll'”. Und was könnten wir über das treue Geschäft der Engel mehr, Besseres, Innigeres und Tröstlicheres sagen als die Bitte, in die Paul Gerhardts Abendlied ausklingt „Will Satan mich verschlingen, so laß die Englein singen: dies Kind soll unverletzet sein!”?

LeerWeil in dem Boten und Diener immer der Herr selbst gegenwärtig und am Werk ist, darum bedeutet diese Abwehr der Engel über dem ohnmächtig darniederliegenden Menschen nichts anderes als das Licht, mit dem Christus selbst, „die ewge Himmelskerz”, das entschwundene Licht der Sonne in den Seelen überschwänglich ersetzt.
„Fahr' hin, ein andre Sonne / Mein Jesus, meine Wonne /
Gar hell in meinem Herzen scheint.”
„Du unerschaffne Sonne, brich mit Deinem Licht hervor/
Mir zur Freud' und Wonne!”
LeerSolche aus der Sprache der Mystik entlehnten Gebetsworte haben aber ihre biblische Begründung in einigen ganz konkreten Geschichten, die die Gestalt Jesu nicht nur mit dem Morgen, sondern mit dem Abend verbinden. Die Erzählung (Matth. 14, 23), daß der Herr am Abend allein war auf dem Berg des Gebets, ist sozusagen das Urbild des Abendgebets „im Namen Jesu”; und während die Auferstehung des Herrn und seine Erscheinung am See der Morgenfrühe zugehören, kommt er doch am Abend, da die Jünger aus Furcht die Türen verschlossen hatten, durch die verschlossene Tür mit der Gabe seines Friedens (Joh. 20, 19), und die Bitte der Jünger in Emmaus „Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden” klingt in allen unseren Abendgebeten wider; und wenn wir bitten „Verleihe, daß der lieben Engel Scharen / Mich vor der Macht der Finsternis bewahren”, so meinen wir ja nichts anderes, als daß er selbst, der Herr, dem alle Engel dienen, bei uns bleibe und uns in seiner Hand behalte.

LeerDiese ganze Betrachtung aber gilt in einer geheimnisvollen Analogie ebenso für den Lauf des Jahres wie für den Lauf des Tages. Es mag in dem Einweihungsdatum einer dem Erzengel Michael geweihten Kirche seine „zufällige” Ursache haben, daß die Kirche das Fest „Michaels und aller Engel” am 29. September, in der Nachbarschaft der herbstlichen Tag- und Nachtgleiche begeht; aber es geschieht ja nicht selten, daß sich späteren Geschlechtern ein tieferer Sinn enthüllt in dem, was, historisch betrachtet, in äußeren Ursachen seinen „zufälligen” Ursprung hat. Im Herbst, wenn das Jahr sich zu seinem Abend neigt und in dem Ringen der Todes- und Lebensmächte in der äußeren Natur das große Sterben Überhand nimmt, gedenkt die Kirche des unsichtbaren Kampfes in den geistigen Räumen, in denen der Fürst der Engel den Drachen bezwingt; und während die Wachstumskräfte der äußeren Natur unterliegen und schon die Vorboten der winterlichen Todesstarre sich mit dem letzten Blühen und Reifen mischen, ruft die Kirche auf zu dem geistlichen Kampf im Vertrauen auf den Überwinder des Todes. In der Umkehr des unmittelbaren Naturempfindens, wie sie ebenso in jenen Abendgebeten von der unerschaffenen Sonne wie in dieser michaelischen Zeit des Kirchenjahres zum Ausdruck kommt, enthüllt sich die letzte Unabhängigkeit des christlichen Lebensgefühls von allen bloß naturhaften Rhythmen und die sieghafte Überwindung der Vergänglichkeit, an die jeder Abend unmißverständlich gemahnt. Hier ist der tiefste Grund dafür zu finden, warum die christliche Sinnbildlichkeit des Abends, ganz anders als die des Morgens, von einer letzten Zweideutigkeit erfüllt und geradezu in das Gegenbild des natürlichen Abends verkehrt ist.

LeerIn der letzten Zeit des Kirchenjahres, im Zusammenhang des herbstlichen Quatember, hält die Kirche ihren allgemeinen Bußtag, wie am Abend des Tages so am Abend des Jahres, mit deutlichem Blick auf den Abend der Welt.

LeerDenn jeder Abend ist ein Vorbote des Todes, ein Zeichen des Endes, das allem irdischen Leben gesetzt ist. Darum verbindet sich in so vielen Abendliedern mit der Bitte um eine ruhige Nacht die andere Bitte um Bewahrung vor einem „bösen schnellen Tod” und um ein seliges Ende. Das tägliche Nachtgebet der Kirche, die Komplet, ist, vor allem in ihrem Mittelstück, dem sogenannten Responsorium breve, dem „Kurzen Wechselgebet” die tägliche Bereitung auf die Sterbestunde „In Deine Hände, Herre Gott, befehle ich meinen Geist; Du hast mich erlöset, Herr, Du treuer Gott; Dir befehle ich meinen Geist.” Alle diese Gebete haben darin ihren letzten „tödlichen” Ernst, daß es eben keineswegs selbstverständlich ist, daß wir am anderen Morgen „frisch und gesund” wieder aufstehen zu neuem Tag. Von meiner Kindheit war für mich der Vers stets von einer geheimnisvollen Todesnähe umwittert.
„Soll diese Nacht die letzte sein / in diesem Jammertal /
so führ mich, Herr, in Himmel ein / zur auserwählten Zahl”.
LeerAber gerade hier, in der unheimlichen Nachbarschaft von Schlaf und Tod, enthüllt sich erst das letzte Geheimnis des christlich verstandenen Abends. Wir rechnen, ich weiß nicht seit wann, den „Tag” von Mitternacht zu Mitternacht und lassen also auf den Morgen den Abend folgen und lassen den Tag beschlossen sein vom Dunkel. Die Bibel rechnet von Abend zu Abend und zählt also den Abend schon zum kommenden Tag. „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag”, heißt es in der Schöpfungsgeschichte. Der Abend ist eben nicht nur, nicht einmal in erster Linie, des Tages Ende, an dem „das Gras abgehauen wird” (Ps. 90, 6), sondern zugleich der „Vorabend” und weist über sich und über die Nacht hinaus auf den neuen Tag. Er ist das unüberhörbare Zeichen des Gerichts, das der Tod über jeden Tag verhängt; aber er ist für den Glauben, der zur Hoffnung aufgerufen und ermächtigt ist, zugleich die große Verheißung, nämlich die Verheißung eines Tages, der nicht mehr in einem Abend versinkt. Die Hoffnung, daß schließlich alle Unruhe und alles Wechselspiel in einen großen Abendfrieden eingehen darf, wäre das genaue Gegenteil der christlichen Hoffnung, und es ist bemerkenswert, daß eine solche sentimentale Erwartung unseren Abendliedern ebenso fern liegt wie das unheimliche Bild von Christus als dem holden Abendstern.

LeerMan kann auch diesen Unterschied in einer vielzitierten Bibelstelle deutlich machen. Es heißt Sach. 14, 7 nach Luthers Übersetzung „um den Abend wird es licht sein”. Dieses Prophetenwort wird zumeist angeführt als das tröstliche Bild eines verklärten Lebensabends, wo alles dunkle Gewölk sich verzogen hat und die letzten Wolkenränder im Widerschein der untergehenden Sonne erglänzen; was aber der Prophet sagen will, ist etwas sehr anderes: Er beschreibt eine kommende Welt, in der der Wechsel von Licht und Finsternis, von Tag und Nacht aufhört (die ja nur dauern, „solange die Erde steht”) und wo also paradoxer Weise auch der Abend von vollem Lichtglanz erhellt ist: Der Tag ohne Abend! Es ist eine vollgültige Auslegung dieses Wortes, wenn es in einem unserer Abendlieder heißt: „Und laß hernach mit allen Frommen / Mich zu dem Glanz des ändern Lebens kommen / Da du uns hast den großen Tag bestimmt / Dem keine Nacht sein Licht und Klarheit nimmt”; oder noch einfältiger und einfacher, wenn das Abendlied mündet in die Bitte „O Ewigkeit, du schöne / Mein Herz an dich gewöhne / Mein Heim ist nicht in dieser Zeit”, sondern in einer Zeit ohne Abend!

LeerDas Nachtgebet der Kirche setzt ein mit der Doppelbitte um eine ruhige Nacht und um - aber nun wissen wir nicht, wie wir in unserer Sprache fortfahren sollen, weil das lateinische Wort fittis perfectus, wörtlich „das vollkommene Ende”, mit keinem deutschen Wort wiedergegeben werden kann. Weder „ein seliges Ende” ... [hier fehlt eine Zeile] endung in sich schließt, das mit dem Ende zugleich das Ziel erreicht hat; einen Lebensabend und einen Lebensausgang also, in dem wie in der Schöpfung aus Abend und Morgen der neue Tag geworden ist.

LeerWir begehen den Morgen als das Gleichnisbild Christi; wir begehen den Abend mit dem Gebet, daß Christus bei uns bleiben möge am Abend des Tages, am Abend des Lebens, am Abend der Welt, „bis der Tag anbricht und Sein Licht kommt”.

Quatember 1954, S. 218-224

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
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