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Israel und die Völker
von Renate Trautmann

LeerEin wirkliches Gespräch zwischen Juden und Christen beider Konfessionen kann nicht eine gestaltlose allgemeine Toleranz zum Ziel haben. Denn wenn wir uns alle tolerieren, hat es keinen besonderen Sinn mehr, miteinander zu reden. Wir geben uns heute nicht mehr zufrieden mit der Aussage von der Gleichheit aller Religionen, wie sie Lessing in seinem „Nathan der Weise” gestaltet hat. Uns geht es darum, daß jeder bewußt das Charakteristische seines Glaubens erkennt. Das gemeinsame Gespräch zwischen den Konfessionen und Religionen muß daher um die Dinge ringen, die uns bewegen, und dabei jede echte Position ernstnehmen. Eine solche Haltung schließt ein Bekehren-Wollen, eine Usurpation des anderen für den eigenen Glauben aus, wie sie dem Christen näher liegt als dem Juden. Vielmehr sollten aus uralten Feindschaften Gegnerschaften werden, die sich aneinander entfalten, wie Friedrich Heer sagt, oder mit Franz Rosenzweig zu sprechen: Der Jude kann am Christen zum Juden werden und der Christ am Juden zum Christen.

LeerDas war der Ausgangspunkt des trikonfessionellen Gesprächs zwischen Juden, Katholiken und Protestanten, zu dem die Berliner Evangelische Akademie unter dem Thema „Israel und die Völker” in ihr Haus am Kleinen Wannsee eingeladen hatte. Ein Ausgangspunkt übrigens, der als Frucht der vorjährigen Israeltagung mit dem Thema „Una Sancta mit den Juden?” zu sehen ist und der seine besondere Bedeutsamkeit erweist, wenn man bedenkt, welche schuldhafte Belastung wir aus unserer jüngsten Geschichte den Juden gegenüber mit uns tragen.

LeerAls Lessing seinem Nathan die Ringparabel in den Mund legte, stand er einer Christenheit gegenüber, welche die mit den Juden gemeinsame geschichtliche Vergangenheit weniger ernstnahm als jene trennende Aussage, daß Israel die Stunde nicht erkannt habe. Zu jener Zeit hat es zwar auch schon Judenverfolgungen gegeben, aber noch keinen Hitler. Und es bestand damals noch kein Staat Israel. Diese drei heute neugegebenen Blickpunkte bestimmten im wesentlichen die Tagung, die Sicht der gemeinsamen Wurzel sowie die Betrachtung des neuen Israel allerdings weit stärker als jenes unbegreiflich-unmenschliche Geschehen des millionenfachen Judenmordes im Dritten Reich. Und es war wohl mehr der Takt der jüdischen Gesprächsteilnehmer als eine - nur allzu leicht bei uns entstehende - Furcht vor der Berührung geschichtlicher Tabus, die den Mantel des Schweigens darüber breitete. Aber zur wirklichen Begegnung gehörte es gleicherweise, daß er doch an einigen Stellen für kurze Augenblicke ein wenig aufgedeckt wurde: denn wir dürfen nicht vergessen, was unser Partner von unserem Volk erlitten hat.

LeerIsrael - „Gottesstreiter” -, der Name hat an jenen drei Blickpunkten je seine besondere Bedeutung - wie in den Ausführungen von Dr. Hermann Levin Goldschmidt (Jüdisches Lehrhaus Zürich) deutlich wurde. Jakobs Kampf am Jabbok ist der biblische Ausgangspunk für das Zwölfstämmevolk Israel. Und im Blick auf den biblischen Ursprung versuchte Martin Buber in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts den Namen Israel wieder zur Losung, zum Grundbegriff des Judentums zu machen. In den Judenverfolgungen des Dritten Reiches wurde - für uns heute beschämend zu hören - dieser Name zur Kennzeichnung der Juden benutzt: alle in Deutschland und Österreich lebenden Juden mußten vom Jahre 1940 an den Namen Israel als zusätzlichen Vornamen führen. Und daß der 1948 neugegründete Staat Israel genannt wurde, geschah für viele unerwartet, für manche gar unerwünscht, ist dieser Name doch Ausdruck für die messianischen Erwartungen der Juden.

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LeerIsrael hat bis heute seine Sonderstellung unter den Völkern nicht verloren. Und auch wo es ganz neu beginnen will, den Blick nur in die Zukunft gerichtet, lebt es im Grunde aus seiner jahrtausendealten Geschichte, vielleicht an manchen Punkten stärker sichtbar für den Außenstehenden als für das Volk selbst. So war es durchaus legitim, wenn Professor Karl Thieme (Germersheim und Mainz) als Katholik das neue Bild Israels in christlicher Sicht zeichnete, legitim noch in besonderer Weise im Blick darauf, daß die Christenheit durch fast zwei Jahrtausende hindurch ein Zerrbild vom Judentum gehabt hat und erst heute, da man sich nicht mehr voreinander fürchtet, ein neues Bild im Werden ist. Kennzeichen dieses Bildes finden sich in den Büchern des Alten Testaments bereits vorgezeichnet: Die Juden wurden von ihren Gegnern als Fremdkörper empfunden, als Zersetzer angestammter Frömmigkeit und als Allerweltsfeind - Motive, die in ihrer negativen Form den Antisemiten in den verschiedenen Jahrhunderten Gründe für ihren Haß gaben und die in positiver Sicht das nicht verzerrte Bild Israels bestimmen: Die Juden sind die gottgewollten Nonkonformisten, die Täter des Gotteswillens und als solche Entgötzer, und sie bleiben das Priestervolk, das zum Kreuzträger berufen ist.

LeerDie Christen haben diesen lebendigen Bezug zur Geschichte, wie ihn Israel hat, verloren. Die Punktualisierung der Gottesoffenbarung auf einen Augenblick verdunkelte das Wissen um das ständige Von-Gott-her-Kommen. Dieses Phänomen wurde von evangelischer Seite betont: von Dr. Wolf-Dieter Marsch (Göttingen) in seinen biblischen Betrachtungen über den Namen Gottes im Alten und Neuen Testament, und von Professor Gerhard Koch (Berlin) in seinem Referat über „Israel und die Christen”. Wenn wir als Christen wirklich am Juden zum Christen werden können, so sollte es vor allem wohl an diesem Punkt geschehen, denn wo unser Glaube keine Vergangenheit hat, dort ist auch keine Zukunft. Der gemeinsame Ursprung von Juden und Christen, in dem der geheime Grund des Heute liegt, darf uns aber nicht dazu führen, die Vorgeschichte einfach zu usurpieren und uns selbst, die Christen, als Erfüller dieser Geschichte zu betrachten, wie es lange Zeit hindurch geschehen ist. Denn daher gerade, so sagte Professor Koch, kommt die Geschichtslosigkeit der Christen. Der „Besitz” des Christus ließ die Christen ihre Aufgabe in der Welt vernachlässigen und sich in ein selbstgewähltes Ghetto zurückziehen. Jahrhundertelang machten sie Christus zu einer Idee, einem Prinzip und damit weltlos. Der Christus Gottes aber ist die Beantwortung des Gottes Israels, der mit seinem Volk im Verhältnis der Wegschaft, der Geschichte steht.

LeerJüdische Theologie ist nicht in erster Linie Lehre, über die man streiten und sich entzweien kann, sondern jüdische Theologie ist Dasein, ist Handeln, sagten jüdische Gesprächsteilnehmer und brachten damit den Welt- und Lebensbezug des jüdischen Volkes zum Ausdruck. Die Thora ist im heutigen Israel lebendig, obwohl sich nur ein Teil der Bevölkerung als orthodox ansprechen läßt. Für die Pharisäer ist das Wirken und Leben in jenem Land an sich schon eine religiöse Tat, führte der Rabbiner Simcha Abir aus, der selbst ein lebendiges Beispiel dafür ist, wie die Thora unmittelbare Quelle für das Leben heute sein kann. So lange in Israel gesiedelt werden kann, sagte er weiter, ist das ein Zeichen, daß die Gnade Gottes auf diesem Land ruht - auch wenn die Menschen, die dort wohnen und arbeiten, das nicht wissen.

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LeerMehr als auf das Judentum in der Zerstreuung wurde daher der Blick in dieser Tagung immer wieder auf den neuen Staat Israel gelenkt, an dessen bewundernswertem Aufbauwillen und an dessen erstaunlichen Leistungen man nicht vorbeisehen kann, wenn heute man mit Juden spricht. Anna Maria Jokl (Berlin) schilderte als außerhalb Israels lebende Jüdin ihre Eindrücke von einer Reise in jenes Land, in dem europäische, orientalische und amerikanische Juden, Arbeiter und Ärzte, Analphabeten und bedeutende Wissenschaftler, Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen und Traditionen miteinander arbeiten und leben und zu einem Volk verschmelzen. Deutsche Studenten berichteten mit Lichtbildern von den Kibbuzim in Israel, jenen zumeist landwirtschaftlichen Siedlungen, in denen Menschen aus verschiedenen Berufen ein gemeinsames Leben führen und gemeinsam arbeiten - ohne Lohn - für ihre Gemeinschaft.

LeerAm markantesten aber kam der Geist des neuen Israel zum Ausdruck in dem Israeli Jochanan Bloch, der 25 Jahre dort gelebt hat und jetzt in Berlin studiert. Hatte Rabbi Abir rückblickend die Besiedlung dieses Landes von der jahrtausendealten Heilsgeschichte her gesehen, so blickte Bloch von dieser her bewußt in die Zukunft: Wir wollen leben; das ist in der Zerstreuung, im Exil untragbar geworden. Wir brauchen unser eigenes Land, damit jüdische Geschichte wieder Heilsgeschichte werden kann. Etwas wie eine Sehnsucht schien durch seine Worte hindurchzuklingen, wie andere Völker wirken, schaffen und leben zu können, ohne daß von christlicher Seite Israel immer wieder als das Volk angesprochen wird, dessen Auftrag Leiden sei - wird sich doch die Gottesknechtschaft von ganz allein ergeben.

LeerBloch war es auch, der mit seiner unerbittlichen Forderung nach der Tat den Mantel, der über dem Geschehen von zwölf Jahren Hitlerherrschaft lag, ein wenig hob, nachdem Dr. Franz Suchan zur aktuellen Problematik gesprochen hatte. Die Frage unserer jüngsten Vergangenheit gehört in ein Gespräch zwischen Israel und den Deutschen, sagte Suchan, weil wir keinen Grund und kein Recht haben, uns zu beruhigen, weil wir mit unserer Vergangenheit fertig werden müssen, in die Hitler genauso gehört wie Goethe und Kant. Hier vor allem ist mit billiger Toleranz, die verschweigt oder bagatellisiert, keinem geholfen. Mit Nathan dem Weisen läßt sich keine tragfähige Grundlage für das Verhältnis zwischen Israel und dem deutschen Volk schaffen. Viel tiefer als die Toleranz geht jenes andere Verhalten, das Dr. Suchan forderte: Geduld haben und warten, ob und wann das jüdische Volk in der Lage ist, zwar nicht zu vergessen, aber zu vergeben. Es gibt viele - davon konnten auch die Israelbesucher berichten -, die diese Kraft schon gefunden haben. Nichts ist beglückender und zukunftsträchtiger, als wenn unsere Begegnung mit Israel diese Vergebung bringen kann. Das aber ist nur möglich, wenn wir Deutschen selbst bereit sind, nicht zu vergessen.

LeerEin Zeichen, daß diese Tagung wirklich den verschiedenen Partnern geholfen hat, sich selbst besser zu verstehen und den anderen in seiner Eigenart ganz ernstzunehmen, mag in der allgemeinen Zustimmung gesehen werden zu einem Wort aus dem Midrasch, das Abir abschließend zitierte: Wir sind alle in der gleichen Not. Wer für seinen Freund betet, wird zuerst erhört.

Quatember 1958, S. 163-165

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-30
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