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Die Lehre der Kirche
Briefwechsel Jochmus/Stählin
von Hermann Jochmus

Lieber Herr Stählin!

LeerEndlich finde ich die Ruhe zu einem Brief, den zu schreiben mir am Herzen liegt, seit ich Ihren Bielefelder Vortrag vom Oktober 1930 „Menschenführung als Aufgabe der Kirche” im neuen Gewande in dem Heft „Kirche und Menschenbildung” gelesen habe. Sie wissen, daß ich bei aller innersten Zugehörigkeit zum Berneuchener Kreis und in aller persönlichen Verbundenheit mit Ihnen immer auch offen meine Vorbehalte gegenüber dem Weg des Kreises im einzelnen angemeldet habe. Es geht dem Berneuchener Kreis um die Erneuerung der Kirche. Ich glaube durch Berneuchen gelernt und erfahren zu haben, daß Kirche notwendig und - auch im Protestantismus möglich ist. Aber ich hatte immer wieder Zweifel, ob die Berneuchener Kritik an der heutigen Kirche, ob die Erkenntnis der kirchlichen Lage auch bis zum letzten Grunde durchstieß. In dem Sehnen nach Erneuerung der Kirche kam und komme ich nicht los von der zweifelnden Frage: Hat der Berneuchener Kreis seinen Angriff an allen entscheidenden Punkten angesetzt, und ist der Angriff so umfassend, daß er Erfolg haben kann, soweit wir Menschen das voraussehen und voraussagen können?

LeerSo recht deutlich zu machen, was ich meinte, ist mir als Nichttheologen wohl nie gelungen. Nun glaube ich in Ihrem Vortrage den Schlüssel gefunden zu haben. Auf Seite 39 des Heftes sprechen Sie von der dreifachen Erscheinungsform des Lebens der Kirche in Lehre, Kultus und verfaßter Gemeinschaft.(1) Ein Angriff auf die bestehende Kirche um ihrer Erneuerung willen kann nur erfolgreich sein, wenn er umfassend die drei Erscheinungsformen der Kirche gleichsam als ihre Bastionen gleichzeitig anpackt, und wenn die Angreifer in sich Rüstzeug und Kraft mitbringen, nach dem Eindringen in die Bastionen sie von Grund aus neu aufzubauen. Daß der Berneuchener Kreis im scharfen Ringen um Kultus und verfaßte Gemeinschaft steht, bedarf keines Wortes. Aber wie steht es mit der Lehre?

LeerSie sagen an jener Stelle Ihres Vortrages: „Die Lehre der Kirche, die Sprache ihrer Verkündigung und Unterweisung ist der Versuch, den dem Leben der Gnade innewohnenden Sinngehalt, den Logos der Offenbarung in gedanklicher Klarheit, in dem Symbol des Wortes zum Ausdruck zu bringen; also so zu reden, daß in der Rede die Sache selber, nämlich die tragende und richtende Wahrheit erscheint. Es ist hier nicht der Ort, die Schwierigkeiten zu erörtern, mit denen jede kirchliche Lehre, jede kirchliche Sprache belastet ist. Aber ohne solchen Versuch, das Unsagbare zu sagen, gibt es keine Kirche, weil ohne diesen Versuch das religiöse Erleben verflüchtigt würde in Seelenzustände und Stimmungen, in denen der einzelne mit sich allein bleibt, und die, weil sie der Zucht des Gedankens entbehren, im Grunde auch keinen wirklichen Sinngehalt mehr haben.”

LeerEvangelische Kirche kann nicht leben ohne Aussage darüber, was Inhalt der ihr anvertrauten frohen Botschaft ist. Dogma ist notwendig für unsere Kirche im wahrsten Sinne des Wortes. Aber ihr Dogma ist ihre Not, weil mindestens für den Laien entweder nicht mehr erkennbar ist, welches es überhaupt sei - fast jeder Kanzelredner verkündet anderes - oder weil das, was an Dogma erkennbar geblieben ist, von der überwiegenden Zahl der Glieder des „Kirchenvolkes” als unerträgliche, vor Gott unverantwortbare Bindung abgelehnt wird. Nur eine neue Lehre, in der wirklich „die tragende und richtende Wahrheit erscheint”, kann die Not wenden.

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LeerWie völlig die Auflösung - nun allerdings nicht nur in Lehre, sondern auch in Kultus und verfaßter Gemeinschaft - sein kann, hat mir neulich eine Konfirmationsfeier in Br. deutlich gemacht, die bestenfalls als eine leicht religiös verbrämte Stahlhelmjugendweihe angesprochen werden konnte, die aus Gründen der Konvention noch im Kirchenraum stattfand. Ich erwähne das Beispiel, weil ich in ihm zu sehen glaubte, wie gerade die Auflösung der Lehre alle Möglichkeiten für Kultus und verfaßte Gemeinschaft vernichtet. Die Kehrseite trat mir eindrücklich vor wenigen Wochen gelegentlich eines Vortrages von Professor Hauer: „Das Deutsche Volk im Ringen um seinen Glauben” entgegen. Hauer vertrat einen „Deutschen Glauben” - später nannte er ihn indogermanisch -, den er nicht positiv, sondern nur negativ dadurch umschrieb, daß er an einzelnen Sätzen der Glaubenslehre der evangelischen Kirche - wie er sie sieht - beispielhaft erläuterte, warum sein Gottglaube sich nicht an Jesus orientieren könne.

LeerWeil er aber - und ich meine auch mit Recht - wahrhafte Gläubigkeit für sich in Anspruch nahm, bekämpfte er den Ausschließlichkeitsanspruch der christlichen Kirchen für ihren Heilsweg. Damit und mit seiner Ablehnung einzelner Dogmen fand er ganz offenbar innerste Zustimmung bei seinen sehr ernsten Zuhörern, ohne daß diese ihrerseits für sich die Orientierung an Jesus ablehnen wollten. Gleichzeitig aber zeigte sich in der Aussprache, daß der eine evangelische Theologe - Barthianer - der Hauer'schen Kennzeichnung der evangelisch-kirchlichen Glaubenslehre voll zustimmte und daraus die völlige Unvereinbarkeit des kirchlichen und des Hauer'schen Standpunktes übereinstimmend mit Hauer feststellte, während ein anderer die Möglichkeit der Synthese sah. Mir schien der ganze Vortrag in einer Verwechslung des geschichtlich gewordenen Christentums und der einmaligen Offenbarung in Christo stecken zu bleiben, zugleich aber auch völlige Unklarheit zu bestehen, warum gerade das, was Hauer seinen Glauben nannte, deutsch sein sollte.

LeerAlles in allem eine babylonische Verwirrung und im Endergebnis eine wachsende Auflösung. Nehmen wir hinzu das ganze Ringen um die Frage: müssen einzelne Grundlehren des Christentums von der deutschen Seele wesenhaft abgelehnt werden?, welche Bedeutung kommt dem Alten Testament zu? usw. usw., dann scheint mir ganz deutlich zu werden, daß nimmer Kirche gebaut oder erneuert werden kann ohne den ganz entschiedenen Versuch, völlig von neuem für den deutschen Menschen „den Logos der Offenbarung in Christo in gedanklicher Klarheit, in dem Symbol des Wortes zum Ausdruck zu bringen.”

LeerWir dürfen die Hoffnung haben, daß in dem werdenden Zeitalter nicht Bindung an sich und deshalb Kirche und Lehre an sich abgelehnt werden, sondern daß auch die deutschen protestantischen Menschen wieder erfahren können und erfahren werden, daß Kirche und Lehre notwendig und möglich sind. Aber nur die Kirche wird möglich sein, deren Lehre vereinbar ist mit dem, was der von Gott gegebene Geist der Menschen an Erkenntnis und Wissen errungen hat, nicht zuletzt sowohl über die Geschichte des Christentums im Unterschied zu der Offenbarung in Christo, als auch über die Offenbarungen der Wahrheit Gottes, die vor Jesus Christus in die Welt gekommen sind und seit Christus täglich weiter in sie hineinkommen.

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LeerNur die Lehre wird bestehen, die nicht Verengung des Zuganges zu Gott, sondern ein Erfassen der ganzen unsagbaren Fülle und ein Sichbeugen vor der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Wege Gottes zu seinen Geschöpfen ist, der es gerade als christlicher Lehre nicht um Jesus Christus geht, sondern um den einen lebendigen Gott, der sich in ihm den Menschen in einzigartiger Weise offenbart hat. In einer solchen Lehre wird nichts sein können, was die deutsche Seele ablehnen müßte, wenn es wirklich das Wesen dieser deutschen Seele ist, in allem den Kern zu suchen.

LeerUnsere heutige Kirche hat vielleicht noch Lehre - ich weiß es nicht, und der äußere Eindruck ist anders. Aber was sie an Lehre haben möge, ist doch wohl Lehre des Christentums. Und ist die noch „Logos der Offenbarung in Christo in gedanklicher Klarheit” oder aber ein menschliches Gemächte, entstanden im Laufe von 1900 Jahren und nur noch geeignet, Gottes Offenbarung in Christo zu verhüllen? Ist es nicht die entscheidende Aufgabe jedes, der um die Erneuerung der Kirche ringt, anstelle dessen, was heute Lehre der Kirche sein will, die Lehre wieder zu finden, in der die tragende und richtende Wahrheit wieder erscheint, und die deshalb Baustein der zu erneuernden Kirche sein kann?

LeerAlle kultische Arbeit des Berneuchener Kreises ist wohl zugleich auch ein Ringen um die notwendende Lehre. Denn es ist das Wesen des Kultus, durchscheinende Form für die tragende und richtende Wahrheit zu sein. Aber was von dieser Wahrheit im Kultus erfahrbar geworden und erfahren worden ist, bedarf der Umformung in gedankliche Klarheit, in Lehre. Ist diese Arbeit begonnen? Und würde sie ausreichen? Ist nicht ebenso und stärker die Gestaltung der Lehre aus religiösem Erleben in Verbindung mit Denken, Erkenntnis und Wissen, kurz Theologie notwendig?

LeerKultus läßt am ersten Gemeinschaft erleben und leitet zu verfaßter Gemeinschaft. Aber gerade sie ist wiederum ohne Lehre undenkbar, weil sonst statt Kirche die Verflüchtigung des religiösen Lebens in Seelenzustände und Stimmungen eintreten muß, in denen der einzelne mit sich allein bleibt.

LeerVielleicht sehe ich falsch, wenn ich sage: ich sehe nicht, daß der Berneuchener Kreis mit Entschiedenheit den Kampf um die Lehre aufgenommen hat. Aber weil ich's so sehe, deshalb sorge ich darum, daß der Kampf um die Erneuerung der Kirche scheitern müßte, wenn der Angriff nicht auch entschlossen auf die dritte Bastion, die Lehre der Kirche gerichtet wird. Weil ich diese Erneuerung der Kirche ersehne, deshalb möchte ich den Erfolg oder wenigstens die Voraussetzungen des Erfolges für den Berneuchener Kreis. Wäre es nur die Aufgabe des Kreises, als Arbeiter an Kultus und verfaßter Gemeinschaft Schrittmacher auf dem Wege zur Erneuerung der Kirche zu sein, dann müßten wir uns bescheiden und dürften gewiß sein, auch so einen wesentlichen Dienst zu leisten. Aber wissen wir schon, daß wir uns so bescheiden sollen? Sind wir nicht zunächst gerufen, das Ganze zu wagen?

LeerVerzeihen Sie die Anmaßung des Juristen, der so seine Stimme zu erheben wagt. Sie wissen, warum es geschieht. Ich freue mich auf Ihre Antwort, in der schon wieder einmal alles plötzlich am rechten Platz stehen und im richtigen Lichte erscheinen wird, und die mir sagt, daß meine Sorge unnötig ist, weil der Kampf um die Lehre längst aufgenommen ist, und ich das nur nicht gemerkt habe!
Herzlichst Ihr

Jochmus


Anm. 1: Vgl. 3. Mitteilungsblatt S. 7.
Antwort von Wilhelm Stählin

Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 1932/33, S. 113-116

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-26
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