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Der Mensch, der das „Vaterunser” betet
1. Die Anrede
von Wilhelm Stählin

2. Die drei ersten Bitten
3. Die vierte Bitte
4. Die drei letzten Bitten
5. Der Beschluß

LeerIn der neuen Folge unserer Evangelischen Jahresbriefe werden sich durch die meisten Beiträge als ein roter Faden hindurchziehen die Frage nach dem wahren Bild des Menschen, die Sorge um das echte humanum in dem so vielfach bedrohten Menschen, und die dadurch bedingten Fragen der Erziehung, Menschenbildung und Seelenführung. Wir versuchen, in den biblischen Erwägungen, die auch in diesem Jahr an der Spitze eines jeden Heftes stehen sollen, einige, wie wir meinen, wichtige Beiträge zu diesen Fragen aus einer Besinnung auf den Sinngehalt des Vaterunsers zu gewinnen. Eine solche Frage, welches Menschenbild in dem Gebet des Herrn vorausgesetzt ist, anders ausgedrückt, die Frage nach dem Menschen, der das Vaterunser betet, bedeutet nach keiner von beiden Seiten hin eine Vergewaltigung durch eine wesensfremde Fragestellung. Denn wenn das Gebet, das der Herr seine Jünger gelehrt hat, nicht als eine Formel verstanden und gebraucht werden darf, deren mechanische Wiederholung als solche einen religiösen Wert haben könnte, dann ist offenbar dieses Gebet nicht zu denken ohne eine bestimmte Art des menschlichen Seins und inneren Verhaltens, die allein dieses Gebet zu vollziehen, nachzuvollziehen vermag. Und umgekehrt: Nirgends wird der Mensch in so tiefen Schichten seines Seins beansprucht, nirgends die Gefährdung oder auch der Verfall des Menschenwesens so unheimlich enthüllt wie da, wo der Mensch den Versuch macht oder auch nur aufgerufen wird, im Gebet sich vor Gott zu stellen, Ihm zu begegnen und zu antworten.

LeerDamit ist nichts anderes ausgesprochen als die notwendige und unausweichliche Konsequenz aus der Grunderkenntnis, daß der Mensch „auf Gott hin geschaffen” ist, und daß nur eben dieses, daß er als Person auf Gott bezogen ist, die Sonderstellung des Menschen unter allen Kreaturen begründet. Jeder Versuch, auf einer anderen Ebene, in anatomischen oder physiologischen Merkmalen, in seelischen oder geistigen Fähigkeiten einen  a b s o l u t e n  Unterschied zwischen Mensch und Tier zu finden und zu beschreiben, muß deswegen scheitern, weil auch die merkwürdigsten Ähnlichkeiten oder Analogien, die irgendwie vergleichbaren geistigen Anlagen oder Qualitäten zu völlig falschen Schlüssen verführen müssen, wenn man auch nur einen Augenblick vergißt, daß die unzerteilbare Gesamtgestalt „Mensch” oder „Tier”, der die gleichen Bauelemente, Organe, Funktionen oder Reaktionen hier und dort eingefügt oder dienstbar sind, absolut verschieden ist. Und da ja nicht die tatsächliche Ausübung einer Funktion, sondern das Vorhandensein einer Möglichkeit, Anlage und Bestimmung entscheidend ist, vermag auch die Verkümmerung dieser Anlage, der theoretische oder praktische Atheismus, die selbstmörderische Vertierung des Menschen die Tatsache nicht aufzuheben, daß der Mensch auf Gott hin geschaffen ist und er in der bewußten Hinwendung des Geschöpfes zu seinem Schöpfer die Bestimmung seines Wesens erfüllt.

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LeerSo wie sich an den aufgehobenen Händen (1. Tim. 2,8), in der uns aus der Antike so vertrauten Gestalt des Oranten, die aufrechte Gestalt des Menschenleibes in reiner Vollkommenheit darstellt, so stellt sich der Mensch nie so sehr inmitten aller anderen Kreaturen als Mensch dar, wie wenn er sich in der Blickrichtung seiner Wesenstiefe dem zuwendet, das weder er selber ist noch mit irgendetwas, das er in der Welt um ihn her vorfindet, identisch ist, und in dem er sich dennoch oder vielmehr gerade deswegen in einer geheimnisvollen und unbeschreiblichen Weise verbunden, verpflichtet und verantwortlich weiß, wenn er also - um das Gleiche mit dem schlichtesten Worten zu sagen - glaubt und betet. Denn weit entfernt, damit etwa die Augen vor der „Wirklichkeit” zu verschließen und sich in Phantasie und Gemüt einer unwirklichen Ideenwelt zuzuwenden, durchbricht der betende Mensch vielmehr den Bann der oberflächlichen und plumpen Meinung, daß nur das in vollem Sinn wirklich sei, was unseren groben Sinnen zugänglich ist, und wendet sich jener „höheren” (oder „tieferen”, jedenfalls umfassenderen) Wirklichkeit zu, welche zu leugnen oder zu ignorieren das Urteil der Torheit und den Fluch der Lächerlichkeit auf sich zieht (Ps. 14, 1; 2, 4).

LeerEs sind verschiedene Umstände, die diese Rückwendung des Menschen zu seinem Ursprung (die re-ligio) und damit das Menschsein des Menschen erschweren oder verhindern. Vor allem scheint es bequemer, sich auf den innerweltlichen Bereich, auf die unseren Sinnen und unserem Verstande zugängliche „Wirklichkeit” zu beschränken und sich der Beunruhigung durch jene nicht nur übersinnlichen und übernatürlichen, sondern auch übervernünftigen Bereiche zu entziehen. Die „wissenschaftlichen” oder „philosophischen” Begründungen, die der Mensch dieser seiner Blindheit oder Verblendung zu geben vermag, sind eine schlechte Tarnung der metaphysischen Angst, mit der Adam sich vor dem Anruf Gottes hinter den Gebüschen des Paradieses verstecken wollte. beten heißt, hinter all diesen philosophischen (oder theologischen) Gebüschen hervorkommen und sich dem Anruf Gottes stellen und Ihm antworten, auch wenn die Knie dabei wanken und die Augen den auf uns gerichteten Blick nicht aushalten. Beten heißt, die Flucht aus der Wirklichkeit durch eine entschlossene, kühne Umkehr beenden und sich der Wirklichkeit Auge in Auge gegenüberstellen.

LeerWir würden aber vielen Menschen, vielleicht auch uns selbst, unrecht tun, wenn wir anklagend behaupten wollten, daß sich immer der Mensch selbst in bewußter Absicht dieser Begegnung entziehen oder vor ihr verstecken wollte. Er wird ihr entzogen; er wird versteckt. Das sogenannte „Leben” mit seinen Fragen, Nöten, Vergnügungen, Begierden, Aufgaben und Zerstreuungen ist nicht nur das Feld, auf dem der Mensch sich zu bewegen und zu bewähren hat, sondern es wirkt zugleich als eine sehr undurchlässige Wand, die es zu jener Berührung mit der eigentlichen Wirklichkeit nicht kommen läßt. In besonderem Maß isolierend wirkt der Lärm in jeder Form, jene „Geräuschkulisse”, ohne die die meisten Menschen ihre Existenz sich nicht mehr vorstellen können und nicht mehr glauben, aushalten zu können. Es hat darum eine mehr als anekdotische Tragweite, daß nach dem Bericht des Lukas-Evangeliums (11, 1 ff.) die Bitte der Jünger: „Herr, lehre uns beten”, auf die dann der Her mit der Stiftung des Vater-unser-Gebetes antwortete, ausgelöst war durch den Eindruck der Art, wie Jesus selber betete; Jesus aber pflegte, um zu beten, die Einsamkeit und Stille der Berge aufzusuchen; und selbst in jener Nacht des schwersten Kampfes (im Garten Gethsemane), da der Herr wider alle Seine Gewohnheit drei Seiner Jünger bat, bei Ihm zu bleiben und mit Ihm zu wachen, riß Er sich in der eigentlichen Stunde des Gebetes auch aus der Nähe der vertrautesten Menschen los in die äußere Einsamkeit, die der inneren Einsamkeit vor Gott angemessen ist.

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LeerWir wissen freilich, wie schwer es dem heutigen Menschen gemacht ist, Einsamkeit und Stille zu finden; er hat keinen Ort, wo er allein sein könnte, und der Lärm verfolgt ihn allenthalben; die Geräuschkulisse schiebt sich überall zwischen den Menschen und die Wirklichkeit, die er - vielleicht! - suchen möchte. Dabei ist durchaus zu fragen, ob wir nun nicht mehr beten können, weil wir keinen Ort der Einsamkeit und Stille mehr haben, an dem wir dem „Geräuschterror” als einer unheimlichen Begleiterscheinung des Massendaseins entronnen wären; oder ob umgekehrt - gemäß dem indischen Satz „Immer nur kann dir widerfahren, was du selber bist” - der Lärm nur unter solchen Menschen, die zu beten verlernt haben und diese Unfähigkeit kaum mehr als Mangel oder Verlust empfinden, zu seiner seelenbetäubenden Lautstärke anschwellen konnte. Denn die Frage der Einsamkeit und Stille ist zwar gewiß auch eine Frage der äußeren Umstände, und es wäre theoretisch denkbar, daß auch durch einen gesetzlichen „Menschenschutz” die Unverfrorenheit der Lärmmacher in etwas engere Grenzen gewiesen würde; aber es ist überwiegend eine Frage an den Menschen selber, ob er die Einsamkeit erträgt und die Stille sucht, in der allein jene Begegnung zustande kommt, oder ob er die Masse und den Lärm liebt, weil er sich hinter dieser Kulisse vor Gott und damit vor der Wirklichkeit der eigenen Existenz verstecken kann; das heißt aber, ob er in dem Kampf um den Menschen auf der Seite des Menschen oder auf der Seite der Entmenschlichung steht.

LeerDer Herr hat Seine Jünger gelehrt, Gott anzureden als den Vater, der im Himmel ist. Es lohnt sich nicht, bei diesem Wort „Himmel” erst Fragen des antiken Weltbildes aufzuwerfen und zu erörtern, wie weit ein „Himmel”, „in” dem Gott ist, zu den für uns unvollziehbaren mythischen Vorstellungen gehört. Man sollte den Männern früherer Menschheitsperioden nicht Plattheiten zutrauen, wie sie erst auf dem Boden eines grundsätzlich materialistischen Denkens gedeihen konnten. Der Himmel als der Ort der wirkenden Ur-Bilder und Ur-Kräfte ist das mythische Bild für das Geheimnis schlechthin, das uns Menschen und den ganzen sichtbaren Kosmos umfängt und „von allen Seiten umgibt”. Dabei ist es keineswegs so belanglos, wie manche (auch manche Theologen) meinen, daß auch im Eingang des Vaterunsers Gott - wörtlich genau - angeredet wird als der, der „in den Himmeln” ist. Ein Abstraktum, eine bloße Idee kann man nicht in die Mehrzahl setzen; der biblische Himmel aber ist eingegliederte Seinsfülle, die in einer hierarchischen Ordnung abgestuft ist; das Geheimnis, in dem Gott wohnt, ist größer, weiter, tiefer, als sich das in irgendwelchen Formeln ausdrücken läßt. An welchem Ort also steht der Mensch, wenn er es wagt, seinen Blick wirklich nach „oben”, nach diesen Himmeln zu heben?

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LeerEr steht vor allem einer Größe gegenüber, die mit allen menschlichen (auch „geistigen”) Dimensionen schlechterdings unvergleichbar ist, und der er nur in dem Bewußtsein seiner Winzigkeit, mit Furcht und Zittern nahen kann. Martin Luther hat im Kleinen Katechismus aus dem Eingang des Vaterunsers nur das Wort „Vater” ausgelegt und aus diesem Wort nur die Erlaubnis zu der vertrauensvollen Anrede („wie die lieben Kinder ihren lieben Vater”) herausgehört; er ist damit gerechtfertigt, daß damals die Furcht vor dem mysterium tremendum die Frömmigkeitsübung unzähliger Menschen erfüllte und das abgründige Erschrecken durch den süßen Trost des Evangeliums getröstet und geheilt werden mußte. Wir aber sind genau in der umgekehrten Lage: Der Mangel an Gottes-Furcht ist aller Torheit Grund und Anfang, und die metaphysische Respektlosigkeit - um nicht zu sagen: Frechheit - erscheint als das selbstverständliche Recht des Menschen, der keinen Himmel mehr über sich ahnt. Denn wer seinen Blick wirklich und ehrlich zu den Himmeln und zu dem, der in diesen Himmeln ist, erhebt, der vollzieht damit zugleich die tiefe ehrfürchtige Beugung vor dem, das schlechterdings über ihm ist; vor der Größe und Majestät Gottes, vor der Gestaltenfülle geistlicher Wirklichkeiten (die wir meinen, wenn wir stammelnd von „Engeln” sprechen), und eben nur in dieser radikalen Ehrfurcht steht der Mensch an dem Ort, der ihm zugemessen ist, während jede Hybris, die sich weigert, „unter Gott” und „unter dem Himmel” zu sein, ein Frevel ist, in dem der hoffärtige Mensch sich „ver-mißt”.

LeerEs wird vieles klein und unwesentlich, sobald diese Wendung vollzogen wird und der kleine Mensch vor dem Himmel sein „adsum” zu sprechen bereit ist; umgekehrt: nur wenn diese Dimension der wahren Wirklichkeit aus dem Blick entschwunden ist, können tausend Dinge dieser Welt, von dem eigenen kleinen Ich an bis zu den großen „sozialen” und politischen Menschheitsfragen zu jener pseudoreligiösen Wichtigkeit aufgebläht werden, in der sie zu der modernen Form des Polytheismus werden. Hugo Kükelhaus hat kürzlich in einem seiner gezeichneten Märchen von dem „Wind Wichtig” erzählt, der den kleinen „Träumling” immer wieder auf seinem Wege aufhält und ihn von dem abhält, was er eigentlich tun sollte und tun wollte. In der Stille vor Gott werden auch unsere vielen „Winde Wichtig” stille, statt uns durch ihr Propagandagetöse zu verwirren.

LeerEs ist aber keineswegs selbstverständlich, daß wir den Herrn in den Himmeln anzureden wagen, daß da ein Jemand ist, den wir anreden können. daß wir in die unheimlichste Stille hinein ein „Du” zu sprechen wagen. Daß dieses möglich ist (auch wenn es in unzähligen Fällen nicht geschieht)), begründet in einem ganz tiefen Sinn das Wesen des Menschen. Denn dieses „Du” ist die Antwort auf eine Anrede, die zunächst an uns selber gerichtet ist. Man könnte geradezu den Menschen als die angeredete Kreatur, als das allein unter allen Kreaturen von Gott angeredete Wesen beschreiben. Alle anderen Kreaturen, von den Sternen bis zu den Blumen und den winzigsten Lebewesen, sind von Gott geschaffen, aber nicht von Gott angeredet; Gott spricht durch sie (es sei nötig, alle Kreaturen als Äußerungen Gottes - locutiones Dei - anzusehen, sagt Luther), aber er spricht nicht zu ihnen. Sie sind durch das Wort Gottes ins Dasein gerufen, aber an den Menschen allein ergeht ein unmittelbares Wort Gottes. Eine tiefer dringende Analyse der Sprache stößt darauf, daß das „Wort” Gottes die Voraussetzung aller menschlichen Sprache ist; der Mensch kann reden, weil er etwas zu sagen hat - das Tier hat nichts zu sagen -, er hat etwas zu sagen, weil Gott ihm etwas gesagt hat. Die menschliche Sprache ist die indirekte, das Gebet die direkte Antwort auf den Anruf, der an uns ergangen ist. Aus diesem Grunde ist der Mensch das einzige „ver-antwortliche” Wesen unter allen Geschöpfen und wenn die Verantwortung vor Gott, die Verpflichtung und Bereitschaft, auf das göttliche „Wort” zu antworten, geleugnet wird, so wird in solcher Leugnung schlechthin die Würde des Menschen preisgegeben.

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LeerDieses „Du” als solches muß zuerst sein volles Gewicht haben, ehe die Anrede „Vater” zu ihrem Recht kommen kann. In die uns verborgene Welt außerhalb und oberhalb unseres Lebensraumes hinein ruft der betende Mensch „Du, Vater!” Es ist nicht auszudenken, was diese Anrede für das Selbstverständnis des Menschen bedeutet. Zwar hat auch hier Luther im Kleinen Katechismus aus dem eben angedeuteten Grunde nur die eine Hälfte der ganzen Wahrheit ausgesprochen. denn in der Bilderrede von Gott als dem Vater sind Abstammung und Fürsorge zu einer unteilbaren Einheit verbunden. Es kommt alles von Ihm her und kehrt, indem es sich zu Gott wendet, zu seinem Ursprung zurück.

LeerDiese Rückkehr zum Ursprung ist aber eben die Rückkehr zum „Vater”. Der Mensch ist „besorgt” in dem doppelten Sinne dieses Wortes: die Sorge begleitet seine Existenz, aber nicht nur als seine eigene Sorge, sondern auch als Gottes Sorge um ihn und für ihn. In diesem einen Wort liegt die ganze Paradoxie des „Glaubens”: Der Mensch, seiner Kleinheit, Ohnmacht und Unwürdigkeit vor der Majestät Gottes „in den Himmel” bewußt, wagt es dennoch, zu dem verborgenen und unbegreiflichen Gott Vertrauen zu fassen und sich zu Ihm zu wenden, nicht nur als das Geschöpf zu seinem Schöpfer, sondern als das Kind zu seinem Vater. Dieses Vertrauen ist nicht begründbar, aber es ist auch nicht ohne Grund und darum weit entfernt von leichtfertiger Vertrauensseligkeit; es hat seinen Grund freilich nicht in einer erfahrbaren und aufweisbaren Weisheit und Güte des Weltlaufs, sondern allein darin, daß mitten in den unerhellten Finsternissen dieses Weltlaufs, mitten in namenlosem Leiden und zerstörenden Katastrophen an einzelnen Punkten eine dahinter verborgene Liebe sich anzeigt („sich offenbart” sagt die christliche Sprache).

LeerNicht eine einzelne Belehrung oder Ermächtigung, sondern die ganze Erscheinung Jesu Christi in der Welt, die Inkarnation des göttlichen logos, das Rätsel des Kreuzes und das Wunder der Auferstehung sind dem, der seinen Blick dorthin wendet, kein Beweis, aber die Bürgschaft dafür, daß er das Wagnis des Vertrauens wagen darf, und daß sich der verborgene Gott an dem, der Ihm als dem Vater vertraut, als Vater erzeigt. Eine Bilanz zwischen Glück und Leid im menschlichen Schicksal und im Lauf der Weltgeschichte würde dieses Vertrauen ebensosehr erschüttern wie bekräftigen; der Mensch ist auf das Wagnis gestellt, das sich im Gebet, in der Anrede an den Vater in den Himmeln konkret verwirklicht.

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LeerZugleich aber ist der Mensch, indem er dieses Gebet vollzieht, noch in einen anderen Zusammenhang eingefügt: Er kehrt nicht als einzelner heim zu seinem Ursprung und Vater, sondern er findet sich eben darin zugleich in einer neuen und geheimnisvollen Weise mit seinen menschlichen Brüdern verbunden. Denn so gewiß die Sorge und Fürsorge, der er sich anvertraut, ihm als Person in einer ganz „persönlichen” Weise gilt, so gewiß ist diese Fürsorge kein individueller Besitz, und in des „Vaters” Hause sind „viele Wohnungen”. Darum kann niemand sich dem „Vater im Himmel” zuwenden, ohne dort, ob er es weiß oder will oder nicht, die anderen Menschen anzutreffen, die in gleicher Weise als Menschen auf diese Rück-Wendung angewiesen und in der ewigen „Sorge” mit-gemeint und mit-„besorgt” sind. Es ist nicht eine belanglose sprachliche Form, daß das Gebet des Herrn sich durchweg nicht in der Einzahl, sondern in der Mehrzahl bewegt, und es wäre eben nicht möglich, ohne den Angeredeten selbst zu verfehlen, statt des „Vater unser” zu beten „Mein Vater”. (Nur dem Sohn, der in einer unvergleichlichen Weise eins war mit Gott, so sehr, daß er es vermied, sich selbst mit seinen Jüngern in einem „Wir” zusammenzuschließen, geziemte es, in seinem Leben, Leiden und Sterben zu sprechen „mein Vater!”.)

LeerDer natürlichen Selbstsucht, die den Menschen auch in seine Frömmigkeit hinein begleitet, wäre es vielleicht sehr viel lieber, wenn sie Gott ganz für sich „in Anspruch nehmen” könnte, statt im Gebet die anderen Menschen, auch unbequeme und unerwünschte vielleicht, antreffen und mitnehmen zu müssen. Aber indem wir jemanden ausschließen und ihn nicht „in Gott” sehen und lieben, schließen wir uns selber von dem Ort aus, der ebene der Ort eines letzten und tiefsten Miteinander ist (Anm. 1). In dem selbstverständlichen und fraglosen „Wir”, auf welches hier die Anrede an den Vater in den Himmeln bezogen ist, kommt ein entscheidendes Selbstverständnis des Menschen zum Ausdruck. Es ist eben nicht so, daß wir zuerst und zunächst als einzelne jene Rückwendung auf den Ursprung vollziehen könnten, um dann nachher und nachträglich, wo wir es für nötig oder angemessen halten, auch in eine Beziehung zu anderen zu treten; sondern diese Beziehung zu dem neben uns Stehenden ist immer mit der Beziehung zu dem über uns Stehenden zugleich notwendig gegeben; beides gehört unzertrennlich zu dem wahren Bild des Menschen, und jeder Individualismus, der das leugnen oder sich davon dispensieren wollte, würde ebenso sehr das wirkliche Menschsein leugnen und zerstören, wie das in dem Versuch geschieht, rein innerweltlich ohne Gott zu leben. Beides sind Konstruktionen außerhalb der Wirklichkeit. Dieses ist also mitgemeint, wenn wir sagen, daß der betende Mensch, der Mensch, der die Anrede wirklich mitvollzieht, mit der das Vaterunser beginnt, damit aus den ideologischen Seinsverfälschungen umkehrt und heimkehrt zu der Wirklichkeit seiner eigenen Existenz.


Anm. 1: Es heißt „Vater unser” und nicht „Unser Vater”. „Unser” ist nicht „besitzanzeigendes Fürwort”, sondern Genitiv von „wir”; man würde dem Sinn etwas von seiner lapidaren Größe abbrechen, wenn man um der angeblich leichteren Verständlichkeit willen, und um die Sprache des Gebets unserer Schulsprache anzugleichen, ändern und sagen wollte: Unser Vater.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 2-7

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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