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Der Mensch, der das „Vaterunser” betet
5. Der Beschluß
von Wilhelm Stählin

1. Die Anrede
2. Die drei ersten Bitten
3. Die vierte Bitte
4. Die drei letzten Bitten

LeerZunächst: Es ist keineswegs selbstverständlich, daß der Mensch, der das „Vaterunser” betet, seinem Gebet auch die Worte beifügt, die uns als der „Beschluß” vertraut sind: „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit”. Wir wissen, daß in dem katholischen Gebrauch des Vaterunsers das „Amen” unmittelbar auf die siebente Bitte folgt; und eine sorgfältige Beachtung des biblischen Textes zeigt, daß dieser doxologische Schluß bei Lukas (11,4) überhaupt nicht, bei Matthäus (6,13) nur in den späteren Handschriften überliefert ist. Es könnte also scheinen, als ob hier ausnahmsweise die römische Kirche sich strenger an die Heilige Schrift selbst gebunden, die evangelische Kirche dagegen ein in der Bibel selbst nicht begründetesElement der kirchlichen Überlieferung aufgenommen und bewahrt hätte. Indes gibt der genaue Sachverhalt kein Recht zu einer solchen reizvollen Feststellung. Vielmehr hat Luther in genauem Anschluß an die mittelalterliche Tradition das Vaterunser ohne diese Doxologie gebetet; sie fehlt darum auch in allen Texten des Kleinen Katechismus, die zu Luthers Lebzeiten erschienen sind, und seine Auslegung bezieht sich allein auf das Wort „Amen”. Aber in seine Bibelübersetzung hat Luther Matth. 6, 13 die Doxologie aufgenommen, weil er sie in dem ihm vorliegenden griechischen Text vorfand; hier sind diese Worte stehen geblieben, und erst der Probedruck der neuen Bibelrevision (das sogenannte „Probetestament”) hat die Worte in Klammern gesetzt und die Anmerkung angefügt, daß sie nicht zum ursprünglichen Text gehören.

LeerAus Luthers deutscher Bibel ist die Doxologie dann auch - zuerst in Nürnberg 1558 - in den Kleinen Katechismus und von daher in den liturgischen Gebrauch eingegangen; also ein Sieg der biblizistischen Treue (wenn auch gegenüber einem nicht ursprünglichen Text) über die liturgische Überlieferung der Kirche. Wir haben keinen Anlaß, diese Entscheidung zu bedauern und aus philologischer Gewissenhaftigkeit beim Beten des Vaterunsers auf den doxologischen „Beschluß” zu verzichten. Denn die Ergänzung des Gebets durch einen solchen Lobpreis entspricht einer zur Zeit Jesu im Judentum verbreiteten Sitte, und die nach I. Chron. 29,11 geformten Worte sind schon sehr früh als ein fester Bestandteil des Herrengebetes empfunden worden; schon die „Zwölf-Apostel-Lehre”, die vielleicht noch aus dem Ende des 1. Jahrhunderts stammt, zitiert das Vaterunser mit dieser Doxologie. Es ist die lobpreisende Antwort der Gemeinde auf das (von einem einzelnen Vorbeter gesprochene) Gebet; darum entspricht es am besten dem Befund der biblischen und der urkundlichen Überlieferung, wenn der Beschluß, wie es auch an vielen Orten geschieht, von der Gemeinde gesungen wird, und diese sehr sinnvolle Ordnung sollte nicht durch die erst in neuester Zeit aufgekommene fragwürdige Sitte des gemeinsamen Sprechens des ganzen Vaterunsers ersetzt und verdrängt werden.

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LeerDas Gebet des Herrn ist ein Ring, dessen Ende mit dem Anfang verschmolzen ist, oder, um das Gleiche in einem anderen Bild zu sagen, es ist eine Himmelsleiter, die sich von oben zur Erde herabsenkt, um dann wieder hinaufzuführen bis zu der himmlischen Höhe. So wie der Mensch, der das Vaterunser betet, zunächst und vor allem seinen Blick anbetend erhebt zu dem Vater, der in den Himmeln ist, so mündet sein Gebet in der reinen Anbetung vor dem Thron dessen, dem „das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit” zu eigen sind; und so wie der Betende dazu getrieben ist, zunächst von sich selbst, seinen Nöten und Wünschen, auch von seiner Schuld abzusehen und sein Begehren allein auf Gottes Ehre und Gottes Willen zu richten - „Dein Name, Dein Reich, Dein Wille” - , so darf er zuletzt noch einmal mit allem Irdischen auch alles Eigene unter sich lassen in dem vertrauensvollen Anschauen der unvergänglichen Majestät und Herrlichkeit Gottes: „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit!” Dadurch ist alles, was uns betrifft, unser tägliches Brot, auch Übles und Böses, Versuchung und Verfehlung, eigene und fremde Schuld, von dem Ring der Ewigkeit, oder sagen wir besser und zutreffender: von dem Ring Gottes umschlossen, an seinen Ort gerückt und seiner bedrohlichen Letzt-Wichtigkeit entkleidet.
Du allein
sollst es sein,
unser Gott und Herre,
Dir gebührt die Ehre.
LeerDie Neigung, in solchen feierlichen und hymnischen Formeln die einzelnen Worte nicht allzu genau zu beachten, so wie man in einem vollen Geläut nicht mehr die einzelnen Töne unterscheidet, hat auch in Bezug auf die Doxologie des Vaterunsers ihr relatives Recht. „Reich”, „Kraft” und „Herrlichkeit” können ohne bemerkenswertes Eigengewicht als Umschreibungen für den in frommer Scheu gemiedenen Gottesnamen selber dienen. Trotzdem wäre es eine verkehrte und gefährliche Gewohnheit, sich bei so feierlichen Klängen überhaupt nichts zu denken und zu vergessen, daß eben auch jenes Geläut nur deswegen so „voll” klingt, weil jeder einzelne Ton rein und voll erklingt. In drei Bildern entfaltet sich die Machtfülle Gottes, zu der der Beter getrost und vertrauend zurückkehrt: Er ist der Herrscher, der „im Regiment sitzt”, der durch keinen Widerstand entmächtigt werden kann und der als der König aller Könige Menschen dadurch von dem Bösen erlöst, daß er sie zu Untertanen seines Reiches macht; er ist der wirkende Wille, der mit unermeßlicher Dynamik sichdurchsetzt und Seinen Ratschluß verwirklicht; er ist das unvergängliche Feuer, dessen Strahlen die Welt erhellen und erwärmen und dessen Flammen zugleich die verkehrte und gottwidrige Welt verzehren, die Majestät, als deren Kleid uns das Licht erscheint, und von der alle unsere Worte wie Ehre, Herrlichkeit oder Glorie nur stammeln können.

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LeerEs ist gewiß nicht statthaft, alle dreifach gegliederten („triadischen”) Formeln auf die heilige Trinität zu beziehen und entsprechend zu verteilen; aber andererseits ist es eine Hilfe, das dreifaltige Wesen Gottes in solchen ungewohnte Bildern anzuschauen. Die „Herrlichkeit” ist immer die Gloria dei in excelsis, die Majestät des unsichtbaren Gottes, die in der doxa widerstrahlt und unseren sterblichen Augen sichtbar wird; diesem Sohn hat der Vater das „Reich” gegeben, hat ihn zum Herrn und König gemacht, damit in diesem regnum Christi alles an seinen Ort gerückt und zur Einheit der Liebe verbunden würde; der Heilige Geist aber ist die „Energie”, mit der Gott an Menschen, gegen Menschen und durch Menschen das Werk seiner Liebe treibt und bis zu dem letzten Ziel, der Verherrlichung Gottes, vollendet. So ist die Doxologie des Vaterunsers doch nichts anderes als eine Variation des Gloria patri per filium in spiritu sancto, Ehre sei dem Vater durch den Sohn in dem Heiligen Geiste! Gottes „Herrlichkeit” steht am Anfang und am Ende; sie schwingt aus in seiner königlichen Macht und schwingt durch eben sein kraftgeladenes Königtum zurück zur Verherrlichung Gottes.

LeerHaben wir uns damit, in der lobpreisenden Anbetung der himmlischen Glorie, gänzlich entfernt von der irdischen Situation, in der wir des Brotes bedürfen, in der wir vom Bösen heimgesucht, verführt und geplagt werden und in Schuld verstrickt sind; von den Fragen, Nöten und Aufgaben unserer menschheitlichen Schicksale, in denen sich so viel mehr die Macht der Dämonen als die Macht des Königs Christus spiegelt? Oder ist es auch für diese höchst realen und verantwortungsvollen Aufgaben von entscheidender Bedeutung, daß es einen Ort gibt, der allen diesen Zwiespätigkeiten, Schwierigkeiten, Bosheiten und Katastrophen gänlich entrückt und schlechthin überlegen ist? Wir werden die mühselige Arbeit unserer Werktage anders tun, den geistigen, kulturellen und politischen Problemen anders begegnen, unseren Dienst in der Welt anders erfüllen, wenn bei all dem dies als Grundakkord oder als begleitende Melodie mitschwingt: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Es wird alles, was unsere Tage, unsere Zeitungen und unsere Parlamente erfüllt, „relativiert”; das heißt aber nicht, daß diese Dinge unwichtig und wir von der Verantwortung enthoben würden, sondern es heißt „nur” (aber was für ein „nur”!), daß alles in Beziehung („Relation”) gesetzt wird zu dem Königtum Gottes, zu der Kraftwirkung seines Geistes und zu der Herrlichkeit, an der uns Anteil verheißen ist; daß es gemessen wird an dem, was in alle Ewigkeit bleibt, und daß wir also der Ur- und Grundsünde, der superbia absagen: „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit”. Wenn wir das sagen dürfen und von Herzen sagen, dann ist dies das entscheidende Heilmittel gegen die Angst, die uns im Weltlauf überfallen möchte, die Überwindung der Furcht, die nicht durch gesteigerte Machtmittel, sondern allein in der Beheimatung in der „festen Burg” gebannt werden kann. Niemand wird sich darin üben, in Stunden der Verzagtheit, der Verlegenheit, der äußeren und inneren Unsicherheit, die Worte der Doxologie zu sprechen „Ehre sei dem Vater durch den Sohn in dem Heiligen Geiste” oder mit den Worten des Vaterunsers „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit”, ohne dadurch eine geheimnisvolle Stärkung und Festigkeit zu gewinnen, eben weil er absieht von allem Verwirrenden und Beunruhigenden und hinsieht auf die Klarheit und Machtfülle des Vaters, der in den Himmeln ist.

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LeerDem Wort „Amen” wohnt eine merkwürdige Doppelsinnigkeit inne. Das hebräische Wort, dem es entstammt, bezeichnet ebenso die Treue, die unbedingte Vertrauenswürdigkeit Gottes, wie auf der anderen Seite die vertrauensvolle und „einfältige” Hingabe an diese vertrauenswürdige Wahrheit. Es ist für das ganze biblische Denken in höchstem Maße aufschlußreich, daß für jene „objektive” und diese „subjektive” Seite ein und dasselbe Wort gebraucht wird, so daß zwischen ihnen kaum unterschieden werden kann. (Daher an manchen Stellen in den Briefen des Apostels Paulus nicht zu entscheiden ist, ob mit dem Wort pistis die Treue Gottes oder der Glaube des Menschen gemeint ist.) So drückt das Wort Amen im biblischen Sprachgebrauch auf der einen Seite die unbedingte Sicherheit dessen aus, was uns gesagt und verheißen ist. „Wahrlich, wahrlich (amen, amen), ich sage euch...”. Es ist das Siegel dessen, worauf man sich ganz und unbedingt verlassen, woran man sich hingeben darf, ohne die Sorge, auch hier betrogen und enttäuscht zu werden. In der unmittelbaren Verbindung mit der Doxologie des Schlusses bekräftigt also dieses Amen noch einmal, daß diese Kraft auf uns wirkt und diese Herrlichkeit auf uns wartet, und daß wir einem König zugehören, „des Reich wird sein ohn' Ende”. Amen. - Zugleich aber verbindet sich das arge, schwache und schwankende Menschenherz mit dieser vertrauenswürdigen Wahrheit und wird darin „seiner Sache gewiß”. „Dieses meine ich von Herzen.” „Daran hänge ich mein Herz.” „Dabei will ich bleiben, darauf leben und sterben.”

LeerGibt es das, eine Wirklichkeit, die kein Fragezeichen, sondern ein Amen bei sich hat? Gibt es Menschen, die zu irgendetwas Amen sagen, sagen können und sagen wollen? „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker” hat Luther an Erasmus geschrieben. Darum ist das Wörtlein Amen nicht eine leichthin gesprochene dekorative Schlußformel, sondern ein Wort voll des größten Gewichts, an dem wir gewogen und erprobt werden, ob wir einfältig und treu zu sein vermögen, Banner und Wappen in dem großen Kampf gegen unsere eigene Unbeständigkeit, Halbheit und Wankelmütigkeit. Darum verlangt uns immer wieder an Ostern nach dem ermunternden Ausruf: Sprecht im Glauben mit Freuden ja, ja, ja!

LeerWas bedeutet es für die ganze Welt, wenn es in ihr Menschen gibt, die Amen sagen können als Antwort auf das Amen, das zu ihnen gesagt ist.

Ev. Jahresbriefe 1952, S. 185-188

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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