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Der Mensch, der das „Vaterunser” betet
4. Die drei letzten Bitten
von Wilhelm Stählin

1. Die Anrede
2. Die drei ersten Bitten
3. Die vierte Bitte
5. Der Beschluß

LeerWährend die Anrede und die drei ersten Bitten des Vaterunsers den Menschen ganz auf die Majestät Gottes, auf den Vollzug Seines Willens und das Kommen Seines Reiches ausrichten und ihn also sich selbst als das auf Gott bezogene Wesen verstehen lassen, erlauben, ja nötigen die folgenden Bitten den Beter, sich vor Gott auf sich selber zu besinnen und sich vor Gott als den zu bekennen, der er ist. Aber während wir uns, genau in der Mitte des ganzen Gebets, mit der Bitte um das tägliche Brot als die Menschen bekennen, die in ihrem leiblichen Dasein an die Erde gebunden und auf die Gaben angewiesen sind, mit denen der Schöpfer unser irdisches Lebenfristet, haben die 5., 6. und 7. Bitte dieses gemeinsam, daß wir uns darin vor Gott als die vielfältig gefährdeten Menschen bekennen und in der vielfältigen Not, in die wir durch diese Gefährdung geraten, die Hilfe Gottes erflehen.

Leer1. Es ist bekanntlich eine der Verschiedenheiten der Meinung und der Überlieferung zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche, ob wir in der 7. Bitte um Erlösung „von den Übel” oder „von dem Bösen” beten sollen. Wahrscheinlich entspricht die reformierte Übersetzung genauer dem Sinn des uns in griechischer Sprache überlieferten Textes, und zwar ist - wahrscheinlich, denn eine unbestreitbare Entscheidung kann in dieser Frage nicht getroffen werden - nicht „das Böse” als ein allgemeiner und anonymer Begriff, sondern „der Böse”, nämlich der böse Feind schlechthin gemeint. Indes entspricht die lutherische Übung (die übrigens übereinstimmt mit der römisch-katholischen, sofern dort das Vaterunser in deutscher Sprache gebetet wird) nicht nur dem menschlichen Verlangen, einmal frei zu werden von allem, was uns als „Übel” betrifft, die Freude unseres Lebens mindert und unser Leben selbst mit Zerstörung bedroht, sondern sie entspricht ebenso jener biblischen Denkweise, die überhaupt nicht in der Weise, wie wir das zu tun pflegen, zwischen äußerem und inneren „Übel”, zwischen der von außen kommenden Bedrohung und der von innen her kommenden Gefährdung unseres menschlichen Seins, unterscheidet.

LeerAuch Schmerz, Krankheit und Leiden aller Art bis hin zu den großen Katastrophen, von denen wir heimgesucht werden können, werden in der Heiligen Schrift als Herrschaftszeichen der widergöttlichen Macht verstanden, welche auf das Verderben und die Zerstörung des Menschen bedacht ist. Auch wo das in dem Weltlauf wie ein Unkraut wuchernde Übel und das in dem Menschen selbst wie ein unheimlicher Giftstoff wuchernde Böse nicht in der Vorstellung eines persönlichen Teufels als ihrem Einheitspunkt zusammengeschaut werden, ahnen wir doch, wie sehr alle äußeren Schäden, die uns in unserem leiblichen Dasein bedrohen, zusammenhängen mit der Verkehrtheit unseres eigenen Herzens; und wenngleich wir gewiß nicht in jedem einzelnen Fall diesen Zusammenhang aufzuweisen vermögen, so haben wir doch immer wieder Anlaß, uns auf die Wahrheit des von uns oft angeführten indischen Wortes zu besinnen: „Immer nur kann dir widerfahren, was du selber bist”.

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LeerKein Versuch, diese Gefahren abzuwehren und dem Menschen durch Sicherungen aller möglichen Art ein relativ ruhiges und störungsfreies Dasein zu verschaffen, kann restlos gelingen. Wenn es der Wissenschaft und der Technik gelingt, Wildbäche und Blitze zu bändigen, Seuchen, die in früheren Jahrhunderten ungezählte Opfer gefordert haben, praktisch auszurotten, die Säuglingssterblichkeit auf ein Minimum zu reduzieren und das Durchschnittslebensalter, das ein Mensch bei seiner Geburt erwarten darf, auf mehr als das Doppelte zu erhöhen, so wissen wir doch alle, wie wenig solche großen Taten „das Übel” selbst abzuschaffen und die Erde in ein Paradies zu verwandeln vermocht haben, wie sehr der Hydra des Verderbens an die Stelle jedes abgeschlagenen Kopfes zwei neue nachgewachsen sind, und wie also die die Menschheit bedrohenden Gefahren und Leiden nur Namen und Gestalt gewechselt haben. Der Glaube daran, daß es einmal gelingen könnte, diese ständige Bedrohung auszuschalten und das Leben wirksam und dauernd zu sichern, ist uns abhanden gekommen, und es gut, wenn wir nicht mehr diesem illusionären Wunschtraum nachhängen. Um so eher werden wir selbst in der Reihe der Menschen stehen, die als die immer gefährdeten Menschen das Vaterunser beten.

LeerAber, wie gesagt, diese ständige Bedrohung durch „Übel” und Leiden jeder Art ist ja nur die äußere Seite einer viel tiefer greifenden Bedrohung. Wir bleiben freilich noch an der Oberfläche, wenn wir bei dem Wort „Versuchung” nur an die verführerischen Anlässe denken, in denen es uns so unheimlich nahe liegt, ein Gebot zu übertreten und die moralische Ordnung zu verletzen. Jene „Versuchungen” zur Lüge, zur bösen Nachrede, zur Unehrlichkeit, zum Jähzorn, zu jedem Mangel an Maß und Zucht: dieses alles, was wir unseren Kindern sozusagen als ersten Anschauungsunterricht über die Verführbarkeit des Menschen beschreiben, stellt doch nur erst das Vorfeld der eigentlichen Versuchungen dar, in denen der Kampf um den Menschen ausgefochten wird. So wenig wir diese Niederlagen unserer Alltage verharmlosen wollen, so sind wir doch in einem viel tieferen Sinn anfällig. Wir sind ständig in Gefahr, den vorgezeichneten Weg zu verlieren, aus der göttlichen Ordnung herauszufallen, zu verleugnen und zu verraten, was wir „eigentlich” sind; wir ertappen uns immer wieder auf dem Weg der Flucht aus der Wirklichkeit in ein anmaßendes Scheinwesen; wir bauen mit unserem Wissen, auch mit unseren religiösen Gedanken, eine Scheinwelt auf und entschuldigen uns damit vor unsselber über die Unwirklichkeit und Unehrlichkeit unseres ganzen Lebens; wir sind zu feige, die verachtete Einsamkeit auf uns zu nehmen, in die die schlichte Wahrheit und Treue fast zwangsläufig gerät, und vergiften mit der Lüge der Schriftgelehrten und Pharisäer sowohl unser Verhältnis zu Gott wie das zu unseren Nächsten.

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LeerDaß wir in solcher Weise versuchbar und anfällig sind, ist aber von unserer menschlichen Existenz überhaupt unablösbar. Indem Gott den Menschen nicht wie alle anderen Kreaturen unter das Gesetz des Zwanges, sondern unter das Gebot des Gehorsams stellt, verleiht Er ihm zugleich die gefährliche Möglichkeit des Ungehorsams. Er, und er allein, kann aus der Ordnung herausfallen, kann etwas anderes sein wollen, als er ist, und damit sich seinem Schöpfer und Herrn widersetzen. Seit „Adams Fall” ist der Mensch ständig versucht: zu jeder Zeit, buchstäblich zu jeder Stunde oder vielmehr in jedem Augenblick ist er auf die Probe des Gehorsams gestellt, und jede Probe der Bewährung trägt in sich das Gefälle zum Versagen und zum Abfall. Weil es dabei aber um Heil und Fluch, um Sinnerfüllung oder Sinnzerstörung geht, darum ist sozusagen das Unternehmen „Mensch” ständig in Gefahr, zu mißraten und zu mißlingen. Die verblendete Selbstsicherheit kann sich über diese Lage wohl täuschen, aber niemand ist in größerer oder unheimlicherer Versuchung als der , der seiner selbst sicher zu sein wähnt.

LeerDie gleiche Gefahr wiederholt sich auf einer anderen Ebene. So wie die Versuchung zur menschlichen Existenz gehört, so begleitet die Anfechtung den Glaubenden. Dem Angefochtenen wankt der Boden, auf dem er alleine stehen kann, unter den Füßen; das, woran er sich halten möchte, zerbricht ihm unter den Händen; sein Glaube erscheint ihm als leerer Wahn, und der Zweifel frißt allen Trost der Seele weg; auch der rettende Blick auf Gottes Liebe ist durch eine undurchdringliche Wolkenwand von Traurigkeit versperrt. „Mißglauben” und „Verzweiflung”, die Luther (in der Auslegung der 6. Bitte) zu den großen Schanden und Lastern rechnet, sind die Versuchung, in der der Glaubende - nicht der Ungläubige, zuschanden werden kann.

LeerNiemand ist gefeit gegen die Verführung, kein Glaubender sicher vor Anfechtung; niemand kann sagen, daß er nie in der Stunde der Bewährung versagt habe, daß sein Glaube nie von Zweifel erschüttert worden sei, daß er nie am Abgrund der Verzweiflung gestanden habe.

LeerDarum sind wir immer in der Schuld vor Gott, ohne jede Möglichkeit, die Schuld zu bezahlen. Weder das Wort Sünde, noch vollends das Wort Schuld können in ihrem innersten Gehalt verstanden werden außerhalb der Beziehung auf Gott; umgekehrt wird die Situation des Menschen Gott gegenüber illusionäre und hybride (größenwahnsinnig) verzeichnet, wenn darin nicht die Anerkennung dieser unendlichen Schuld eingeschlossen ist. Jeder Versuch, in der Bewegung zu Gott hin, diesen Abstand der Schuld zu sprengen, ist frevelhaft und wider die Wahrheit. Wer seine Unschuld beteuert, beweist seine Verlogenheit; so oder ähnlich hat Leopold Ziegler diese bittere Wahrheit formuliert. Darum hat das Wort „Schuld” seinen Ort nicht so sehr in der Rede zwischen Menschen oder über Menschen, sondern in der Anrede des Menschen an Gott, und umgekehrt: Der Mensch, der das Vaterunser betet, wird immer zugleich der Mensch sein, der vor Gott seine Schuld bekennt.

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Leer2. Dieses Selbstbekenntnis des von Übeln bedrohten, in der Versuchung gefährdeten und von Schuld belasteten Menschen ist freilich immer mehr als die nüchterne Anerkenntnis eines Tatbestandes. Weil Gott der lebendige Gott ist, der uns verheißen hat, daß unser Gebet zu Seinem Herzen dringen werde, darum i st es Ihm nicht genug, wenn Seine Kinder die unabänderliche Misère ihrer gefährdeten Lage vor Ihm ausbreiten; indem wir uns an Ihn wenden, erbitten und erwarten wir zugleich von Ihm eine entscheidende Hilfe in diesem gefährdeten Dasein.

LeerWas heißt es und welche Art von Hilfe meinen wir, wenn wir beten: Vergib uns unsere Schuld? Wahrscheinlich denkt das Kind, wenn es um Verzeihung bittet, zunächst an nichts anderes, als daran, daß ihm durch Erlaß der verwirkten Strafe die peinliche Folge seiner kleinen (oder großen) Missetat erspart bleiben möchte, und wahrscheinlich kommen die meisten Menschen, auch die meisten Christen, wenn sie das Vaterunser beten, über dieses kindliche Verständnis dieser Bitte nicht hinaus. Indes ist es keineswegs immer die Absicht der göttlichen Liebe, uns die Folgen unseres Tuns zu ersparen, und ein tieferes Bewußtsein unserer Schuld kann sich in einem zarten Gewissen gerade in der Bereitschaft bewähren, die verdiente Strafe auf sich zu nehmen. Jener Konfirmand, der mich einmal, über einem schlimmen Vergehen ertappt, anflehte: „Strafen Sie mich, aber verzeihen Sie mir!” ahnte wohl, daß die Vergebung in einem anderen Sinn und auf einer anderen Ebene hilfreich ist, als es der bloße Straferlaß jemals sein könnte.

LeerDie Bitte zielt vielmehr darauf, daß unsere nicht wegzuräumende Schuld uns nicht von der Liebe Gottes ausschließen möchte, deren wir so wenig entraten können wie des täglichen Brotes; daß Gott uns das Vertrauen, dessen wir uns unwert erwiesen haben, nicht für immer entziehen möchte. Die griechischen und lateinischen Vokabeln, die wir mit Vergebung wiedergeben (beide Sprachen sind darin reicher als die unsere), bezeichnen einen Vorgang, in dem eine Anklage zurückgewiesen (re-mittere), eine Gefangenschaft und Befangenheit in einem unlösbaren Konflikt aufgelöst, eine bittere Lage durch die Süßigkeit der Milde erträglich gemacht wird. Die Bitte stößt vor an jene ebenso unheimliche wie tröstliche Grenze, wo der Lohn nicht mehr der Leistung entspricht, wo „Gnade” für „Recht” ergeht, und wo der schuldige Mensch in jene Atmosphäre der Güte eingehen darf, in der seine Existenz ganz unabhängig von Wert und Würdigkeit anerkannt und aufgenommen ist. Diese Atmosphäre sucht der Mensch, der das Vaterunser betet, und er sucht sie, weil er eingesehen hat, daß er nur in dieser Atmosphäre der vergebenden Güte ohne Selbsttäuschung und ohne Angst leben kann.

LeerDie Bitte, Gott wolle uns nicht in Versuchung führen, ist erst recht nicht ohne weiteres verständlich. Man muß diese Bitte mit dem Satz des Jakobusbriefes (1, 13) zusammennehmen, daß Gott niemanden „versucht”, um beide Aussagen vor einer gefährlichen Mißdeutung zu bewahren. Das Wort „Versuchung” wird in der Bibel mindestens in drei Bedeutungen gebraucht, die wie konzentrische Kreise ineinander liegen. Das griechische Wort peirasmos bezeichnet zunächst einfach eine Lage, in der wir auf eine Probe gestellt werden und also Gelegenheit haben zu zeigen, wer oder was wir in Wahrheit sind. Das lateinische Wort tentatio, das auch im Text des Vaterunsers gebraucht wird, und das Wort tentamen, womit wir eine wissenschaftliche Prüfung bezeichnen, haben den gleichen Stamm, und meinen im Grunde den gleichen Vorgang der Prüfung und Erprobung. Eine solche Bewährungsprobe aber gehört notwendig zu dem Menschen als einem verantwortlichen Wesen; jedes Gebot und jedes Verbot stellt den Angeredeten auf die Probe und führt ihn (in diesem Sinn) in Versuchung. Niemals aber ist es dabei die Absicht und (menschlich gesprochen) der Wunsch Gottes, daß wir dieser Versuchung erliegen, in dieser Bewährungsprobe versagen. „Versuchung” meint nicht „Verführung”. Der Teufel ist, wenn er uns „versucht”, der Verführer, der will, daß wir den Namen Gottes nicht heiligen und Seinen Willen nicht erfüllen; Gott als der Versucher ist zugleich der väterliche Freund, der unsere Widerstandskraft in der Erprobung stärken will, und dessen Engel sich freuen, wenn wir die Probe bestanden haben.

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LeerIn einer dritten Bedeutung endlich kann das Wort Versuchung jene verzweifelt ausweglose Lage bezeichnen, in der wir die Versuchung gar nicht als Versuchung, weder als die teuflische Verführung noch als die göttliche Erprobung erkennen, sondern in ihr ein lockendes und erstrebenswertes Ziel zu sehen meinen; die Lage also, wo der Trug des bösen Feindes, des Lügners von Anfang, gelungen ist und unseren Willen zum Widerstand schon gänzlich gebrochen und zum Verschwinden gebracht hat: die Verkehrung aller Maßstäbe, wo unten zu oben, links zu rechts geworden ist, und das schlechthin Böse die Gestalt des höheren Ideals, eines weiteren und freieren Menschentums angenommen hat. - Es ist klar, daß die 6. Bitte des Vaterunsers sich wesentlich und vor allem auf die Versuchung in diesem letzteren Sinn bezieht: Gott wolle uns nicht in eine Lage geraten lassen, wo die Versuchung zur Verführung, das „Examen” zum kläglichen Versagen, der Kampf zu einer schmählichen Niederlage, die Gefährdung zur tödlichen und ausweglosen Gefahr wird. Die Bitte freilich, daß Gott uns solche gefährlichen Proben überhaupt ersparen und also die Gefährdung unseres Gehorsams überhaupt von uns abwenden möchte, wäre eine törichte und unerfüllbare Bitte; sie würde nichts anderes bedeuten, als daß wir aus der immer bedrohten menschlichen Existenz in ein untermenschliches, pflanzenhaftes Dasein zu fliehen begehren. Diese Bitte wäre unvereinbar mit der (3.) Bitte, daß der Wille Gottes an uns vollzogen werden möchte, wie er von den Engeln im Himmel (es heißt eben nicht: von den veranwortungs- und entscheidungslosen Kreaturen!) vollzogen wird.

LeerEbenso wenig kann die abschließende Bitte um „Erlösung” vom Übel einfach die Befreiung von allen widrigen und peinlichen Störungen unseres Daseins meinen, ein Leben also ohne Leiden und ohne Tod. Das Wort Erlösung schließt in sich das Bild einer Gebundenheit und Gefangenschaft und zugleich einer Freiheit, in der diese Ketten zerbrochen sind und der Verbannte und Gebundene heimkehren darf in den Raum seiner eigentlichen und wahren Existenz. Mit anderen Worten: Wir bedenken, wie sehr das von außen kommende Übel ebenso wie die inwendige Versuchung und Anfechtung den Menschen in seinem innersten Sein gefährden, wie sehr sie ihn dazu treiben und verleiten können, aus seiner menschlichen Bestimmung auszubrechen und den Sinn seiner Existenz, ein Bild Gottes auf Erden zu sein, zu verfehlen. Dieses ist die letzte und gefährlichste Gefährdung, die nicht endet, solange wir als Menschen auf dieser Erde leben; und wir wagen am Ende des Vaterunsers, Gott darum zu bitten, daß wir in aller dieser Gefährdung nicht aufhören, Menschen zu sein, daß das Gottesbild in uns nicht unter dem Druck äußeren Leidens und innerer Verführung ganz und endgültig zerstört werde, und daß wir endlich und schließlich dennoch - trotz aller unabwendbaren Gefährdung - zur Freiheit der Kinder Gottes hindurchgerettet werden.

LeerDer Mensch, der das Vaterunser betet, ist der Mensch, der illusionslos um seine Gefährdung weiß, aber, ohne in dieser Gefahr zu kapitulieren, sich ausstreckt nach seiner Rettung und Freiheit.

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Leer3. Aber es ist eben der Mensch, der das Vaterunser und im Vaterunser um sein Heil  b e t e t . Das heißt, es ist der Mensch, der seine Gefährdung und die Macht des ihn bedrohenden bösen Feindes so ernst nimmt, daß er in keinem Sinn mehr glaubt, sich selbst in dieser Gefährdung bewahren und retten zu können; sondern er erwartet wirklich sein Heil, die Rettung seines Menschseins, allein von der Liebeskraft Gottes. Der Mensch, der um Vergebung bittet, hat darauf verzichtet, sich selber zu absolvieren; der Mensch, der betet, „Führe uns nicht in Versuchung”, weiß , daß nicht er selbst sich bewahren kann, sondern daß er bewahrt und erhalten werden muß; der Mensch, der um Erlösung fleht, erwartet eben nichts mehr von irgendwelchen menschlichen Aktionen zur Befreiung, Höherentwicklung, Veredelung des Menschengeschlechts, sondern alles von dem Einbruch Gottes in diese Welt der Verstrickung und Zerstörung. Wenn wir das Vaterunser beten, so wie es gebetet sein will, dann ist schon die große Entscheidung gefallen, auf welche das reformatorische Wort von der allein rechtfertigenden Gnade zielt, daß nämlich der Mensch sich im tiefsten Grunde nicht selber helfen kann, aber weiß, daß ihm geholfen wird.

LeerDoch bedarf diese Beschreibung des Menschen, der das Vaterunser betet einer Ergänzung nach zwei Seiten. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Väter, der in den Himmeln ist, kann niemals und in keiner Beziehung ein rein passives sein. Was wir im Hinblick auf die drei ersten Bitten vom Vollzug des göttlichen Willens, von der Huldigung und der Verehrung des göttlichen Namens und von dem aktiven Dienst am kommenden reich gesagt haben, gilt in einer genauen Entsprechung auch im Hinblick auf die Bewährung, Befreiung und Erlösung des gefährdeten Menschen. Da Gott nichts Widersinniges zu tun vermag, kann Er Seine verzeihende Liebe dem nicht gewähren, der seine eigene Schuld „Entschuldigt”, mit ihr liebäugelt und sie eben nicht als wirkliche und bedrückende Schuld vor Gott anerkennt; die Selbstrechtfertigung des mit sich selbst zufriedenen Menschen schließt von der göttlichen Verzeihung aus und macht die Bitte um Vergebung zu einer sinnlosen Phrase, ja zu einer frevelhaften Lüge. In gleicher Weise schließt die Bitte um Bewahrung in der Versuchung und Rettung vor dem Versucher die eigene Wachsamkeit ein; sie verbietet den Leichtsinn, der mit der versuchlichen Situation spielt und verpflichtet zu dem ganzen ernst des sittlichen Kampfes. Nirgends mehr als in diesem geistlichen Kampf gilt die Warnung Qui cherche le péril, y périt. Und die Bitte um die „Erlösung von allem Übel” ist kein Freibrief für den leichtfertigen Mangel an Vorsicht und an Energie im Kampf gegen die uns bedrohenden Übel Leibes und der Seele, so wenig wie das Gottvertrauen den Blitzableiter auf dem Dach verbietet.

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LeerBei all dem kann freilich diese in die Bitte eingeschlossene Verpflichtung nicht auf das eigene Leben beschränkt bleiben. In der 5. Bitte ist ausdrücklich gesagt, wie sehr die Bitte um die vergebende Güte zur Vergebungsbereitschaft gegenüber unseren Mitmenschen verpflichtet und sich darin ausdrücken und darstellen muß. Wer weiß, wie sehr er Gott gegenüber auf gnädiges Erbarmen angewiesen ist, kann auch im menschlichen Bereich nicht unentwegt und unversöhnliche sein vermeintliches oder wirkliches Recht verfechten; wer als der in seiner Schuld Unwürdige Gottes Vertrauen erbittet, kann nicht, ohne zum Lügner zu werden, dem reumütigen Bruder, der an ihm schuldig geworden ist, versagen, was er selbst von Gott begehrt. Wenn unsere menschlichen Beziehungen ganz auf Leistung und Lohn, Forderung und Recht gestellt sind, und die Kraft der barmherzigen und dienenden Liebe erkaltet und erlahmt, dann kann nicht plötzlich in einer religiösen Sphäre lebendig sein, was sonst tausendfach verweigert und verleugnet wird. Der Mensch, der das Vaterunser betet, weiß - und wenn er es noch nicht wüßte, könnte er es in seinem Gebet verstehen - wie sehr unser ganzes menschliches Miteinander von der reinen Flamme vergebender Liebe erwärmt werden muß, und wie sehr alle Formen der Gemeinschaft, auch und vor allem die Ehe, gefährdet sind, wenn die Menschen sich weigern einander auch in ihren Fehlern zu lieben und einander in der Kraft verzeihender Liebe zu tragen.

LeerWas aber hier in der 5. Bitte mit ausdrücklichen Worten gesagt ist, gilt in genauer Entsprechung auch für die beiden anderen Bitten. Könnte der raffinierte Verführer, könnte auch nur der, der für andere zum Versucher wird, ehrlicherweise beten: Führe mich nicht in Versuchung? Wer um seine eigene radikale Gefährdung durch das Böse weiß, kann nicht leichtfertig sich der Verantwortung für seine Brüder, für Ehegatten, Kinder, Freunde, Nachbarn entschlagen. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?” Und schließlich; Wer da weiß, wie sehr wir in der Gefangenschaft dieser Weltsituation des göttlichen Befreiers bedürfen, und wer also das Vaterunser bis zur letzten Bitte in Inbrunst betet, der kann sich der Aufgabe nicht entziehen, selbst an seinem Teil an seinen Mitmenschen zum Werkzeug der Hilfe und Befreiung zu werden. Wie tief sind wir betroffen und belastet davon, daß so viele unserer Freuden „mit fremden Leiden erkauft” sind! Die Freiheit zu der wir erlöst werden sollen, ist niemals eine Freiheit auf Kosten anderer, sondern die Kraft der erlösenden Gottesliebe will durch unseren Dienst und unser Wesen ausstrahlen und hineinwirken in die dunkle Gebundenheit der vielen um uns her.

LeerNoch einmal sie dieses gesagt: Es heißt nie „mich”, sondern „uns”; nicht „mein”, sondern „unser”. Der Mensch, der das Vaterunser betet, ist eingeschaltet in den lebendigen Strom der göttlichen Liebe, der durch ihn hindurch sich in die Welt ergießen will, und indem diese Liebe ihm selbst vergibt, ihn bewahrt und erlöst, macht sie ihn zum Werkzeug der gleichen gnädigen Hilfe für seine gleich ihm gefährdeten Brüder.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 121-127

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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