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4. Die drei letzten Bitten von Wilhelm Stählin |
1. Die Anrede 2. Die drei ersten Bitten 3. Die vierte Bitte 5. Der Beschluß Während die Anrede und die drei ersten Bitten des Vaterunsers den Menschen ganz auf die Majestät Gottes, auf den Vollzug Seines Willens und das Kommen Seines Reiches ausrichten und ihn also sich selbst als das auf Gott bezogene Wesen verstehen lassen, erlauben, ja nötigen die folgenden Bitten den Beter, sich vor Gott auf sich selber zu besinnen und sich vor Gott als den zu bekennen, der er ist. Aber während wir uns, genau in der Mitte des ganzen Gebets, mit der Bitte um das tägliche Brot als die Menschen bekennen, die in ihrem leiblichen Dasein an die Erde gebunden und auf die Gaben angewiesen sind, mit denen der Schöpfer unser irdisches Lebenfristet, haben die 5., 6. und 7. Bitte dieses gemeinsam, daß wir uns darin vor Gott als die vielfältig gefährdeten Menschen bekennen und in der vielfältigen Not, in die wir durch diese Gefährdung geraten, die Hilfe Gottes erflehen. 1. Es ist bekanntlich eine der Verschiedenheiten der Meinung und der Überlieferung zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche, ob wir in der 7. Bitte um Erlösung „von den Übel” oder „von dem Bösen” beten sollen. Wahrscheinlich entspricht die reformierte Übersetzung genauer dem Sinn des uns in griechischer Sprache überlieferten Textes, und zwar ist - wahrscheinlich, denn eine unbestreitbare Entscheidung kann in dieser Frage nicht getroffen werden - nicht „das Böse” als ein allgemeiner und anonymer Begriff, sondern „der Böse”, nämlich der böse Feind schlechthin gemeint. Indes entspricht die lutherische Übung (die übrigens übereinstimmt mit der römisch-katholischen, sofern dort das Vaterunser in deutscher Sprache gebetet wird) nicht nur dem menschlichen Verlangen, einmal frei zu werden von allem, was uns als „Übel” betrifft, die Freude unseres Lebens mindert und unser Leben selbst mit Zerstörung bedroht, sondern sie entspricht ebenso jener biblischen Denkweise, die überhaupt nicht in der Weise, wie wir das zu tun pflegen, zwischen äußerem und inneren „Übel”, zwischen der von außen kommenden Bedrohung und der von innen her kommenden Gefährdung unseres menschlichen Seins, unterscheidet. Auch Schmerz, Krankheit und Leiden aller Art bis hin zu den großen Katastrophen, von denen wir heimgesucht werden können, werden in der Heiligen Schrift als Herrschaftszeichen der widergöttlichen Macht verstanden, welche auf das Verderben und die Zerstörung des Menschen bedacht ist. Auch wo das in dem Weltlauf wie ein Unkraut wuchernde Übel und das in dem Menschen selbst wie ein unheimlicher Giftstoff wuchernde Böse nicht in der Vorstellung eines persönlichen Teufels als ihrem Einheitspunkt zusammengeschaut werden, ahnen wir doch, wie sehr alle äußeren Schäden, die uns in unserem leiblichen Dasein bedrohen, zusammenhängen mit der Verkehrtheit unseres eigenen Herzens; und wenngleich wir gewiß nicht in jedem einzelnen Fall diesen Zusammenhang aufzuweisen vermögen, so haben wir doch immer wieder Anlaß, uns auf die Wahrheit des von uns oft angeführten indischen Wortes zu besinnen: „Immer nur kann dir widerfahren, was du selber bist”. Aber, wie gesagt, diese ständige Bedrohung durch „Übel” und Leiden jeder Art ist ja nur die äußere Seite einer viel tiefer greifenden Bedrohung. Wir bleiben freilich noch an der Oberfläche, wenn wir bei dem Wort „Versuchung” nur an die verführerischen Anlässe denken, in denen es uns so unheimlich nahe liegt, ein Gebot zu übertreten und die moralische Ordnung zu verletzen. Jene „Versuchungen” zur Lüge, zur bösen Nachrede, zur Unehrlichkeit, zum Jähzorn, zu jedem Mangel an Maß und Zucht: dieses alles, was wir unseren Kindern sozusagen als ersten Anschauungsunterricht über die Verführbarkeit des Menschen beschreiben, stellt doch nur erst das Vorfeld der eigentlichen Versuchungen dar, in denen der Kampf um den Menschen ausgefochten wird. So wenig wir diese Niederlagen unserer Alltage verharmlosen wollen, so sind wir doch in einem viel tieferen Sinn anfällig. Wir sind ständig in Gefahr, den vorgezeichneten Weg zu verlieren, aus der göttlichen Ordnung herauszufallen, zu verleugnen und zu verraten, was wir „eigentlich” sind; wir ertappen uns immer wieder auf dem Weg der Flucht aus der Wirklichkeit in ein anmaßendes Scheinwesen; wir bauen mit unserem Wissen, auch mit unseren religiösen Gedanken, eine Scheinwelt auf und entschuldigen uns damit vor unsselber über die Unwirklichkeit und Unehrlichkeit unseres ganzen Lebens; wir sind zu feige, die verachtete Einsamkeit auf uns zu nehmen, in die die schlichte Wahrheit und Treue fast zwangsläufig gerät, und vergiften mit der Lüge der Schriftgelehrten und Pharisäer sowohl unser Verhältnis zu Gott wie das zu unseren Nächsten. Die gleiche Gefahr wiederholt sich auf einer anderen Ebene. So wie die Versuchung zur menschlichen Existenz gehört, so begleitet die Anfechtung den Glaubenden. Dem Angefochtenen wankt der Boden, auf dem er alleine stehen kann, unter den Füßen; das, woran er sich halten möchte, zerbricht ihm unter den Händen; sein Glaube erscheint ihm als leerer Wahn, und der Zweifel frißt allen Trost der Seele weg; auch der rettende Blick auf Gottes Liebe ist durch eine undurchdringliche Wolkenwand von Traurigkeit versperrt. „Mißglauben” und „Verzweiflung”, die Luther (in der Auslegung der 6. Bitte) zu den großen Schanden und Lastern rechnet, sind die Versuchung, in der der Glaubende - nicht der Ungläubige, zuschanden werden kann. Niemand ist gefeit gegen die Verführung, kein Glaubender sicher vor Anfechtung; niemand kann sagen, daß er nie in der Stunde der Bewährung versagt habe, daß sein Glaube nie von Zweifel erschüttert worden sei, daß er nie am Abgrund der Verzweiflung gestanden habe. Darum sind wir immer in der Schuld vor Gott, ohne jede Möglichkeit, die Schuld zu bezahlen. Weder das Wort Sünde, noch vollends das Wort Schuld können in ihrem innersten Gehalt verstanden werden außerhalb der Beziehung auf Gott; umgekehrt wird die Situation des Menschen Gott gegenüber illusionäre und hybride (größenwahnsinnig) verzeichnet, wenn darin nicht die Anerkennung dieser unendlichen Schuld eingeschlossen ist. Jeder Versuch, in der Bewegung zu Gott hin, diesen Abstand der Schuld zu sprengen, ist frevelhaft und wider die Wahrheit. Wer seine Unschuld beteuert, beweist seine Verlogenheit; so oder ähnlich hat Leopold Ziegler diese bittere Wahrheit formuliert. Darum hat das Wort „Schuld” seinen Ort nicht so sehr in der Rede zwischen Menschen oder über Menschen, sondern in der Anrede des Menschen an Gott, und umgekehrt: Der Mensch, der das Vaterunser betet, wird immer zugleich der Mensch sein, der vor Gott seine Schuld bekennt. Was heißt es und welche Art von Hilfe meinen wir, wenn wir beten: Vergib uns unsere Schuld? Wahrscheinlich denkt das Kind, wenn es um Verzeihung bittet, zunächst an nichts anderes, als daran, daß ihm durch Erlaß der verwirkten Strafe die peinliche Folge seiner kleinen (oder großen) Missetat erspart bleiben möchte, und wahrscheinlich kommen die meisten Menschen, auch die meisten Christen, wenn sie das Vaterunser beten, über dieses kindliche Verständnis dieser Bitte nicht hinaus. Indes ist es keineswegs immer die Absicht der göttlichen Liebe, uns die Folgen unseres Tuns zu ersparen, und ein tieferes Bewußtsein unserer Schuld kann sich in einem zarten Gewissen gerade in der Bereitschaft bewähren, die verdiente Strafe auf sich zu nehmen. Jener Konfirmand, der mich einmal, über einem schlimmen Vergehen ertappt, anflehte: „Strafen Sie mich, aber verzeihen Sie mir!” ahnte wohl, daß die Vergebung in einem anderen Sinn und auf einer anderen Ebene hilfreich ist, als es der bloße Straferlaß jemals sein könnte. Die Bitte zielt vielmehr darauf, daß unsere nicht wegzuräumende Schuld uns nicht von der Liebe Gottes ausschließen möchte, deren wir so wenig entraten können wie des täglichen Brotes; daß Gott uns das Vertrauen, dessen wir uns unwert erwiesen haben, nicht für immer entziehen möchte. Die griechischen und lateinischen Vokabeln, die wir mit Vergebung wiedergeben (beide Sprachen sind darin reicher als die unsere), bezeichnen einen Vorgang, in dem eine Anklage zurückgewiesen (re-mittere), eine Gefangenschaft und Befangenheit in einem unlösbaren Konflikt aufgelöst, eine bittere Lage durch die Süßigkeit der Milde erträglich gemacht wird. Die Bitte stößt vor an jene ebenso unheimliche wie tröstliche Grenze, wo der Lohn nicht mehr der Leistung entspricht, wo „Gnade” für „Recht” ergeht, und wo der schuldige Mensch in jene Atmosphäre der Güte eingehen darf, in der seine Existenz ganz unabhängig von Wert und Würdigkeit anerkannt und aufgenommen ist. Diese Atmosphäre sucht der Mensch, der das Vaterunser betet, und er sucht sie, weil er eingesehen hat, daß er nur in dieser Atmosphäre der vergebenden Güte ohne Selbsttäuschung und ohne Angst leben kann. Die Bitte, Gott wolle uns nicht in Versuchung führen, ist erst recht nicht ohne weiteres verständlich. Man muß diese Bitte mit dem Satz des Jakobusbriefes (1, 13) zusammennehmen, daß Gott niemanden „versucht”, um beide Aussagen vor einer gefährlichen Mißdeutung zu bewahren. Das Wort „Versuchung” wird in der Bibel mindestens in drei Bedeutungen gebraucht, die wie konzentrische Kreise ineinander liegen. Das griechische Wort peirasmos bezeichnet zunächst einfach eine Lage, in der wir auf eine Probe gestellt werden und also Gelegenheit haben zu zeigen, wer oder was wir in Wahrheit sind. Das lateinische Wort tentatio, das auch im Text des Vaterunsers gebraucht wird, und das Wort tentamen, womit wir eine wissenschaftliche Prüfung bezeichnen, haben den gleichen Stamm, und meinen im Grunde den gleichen Vorgang der Prüfung und Erprobung. Eine solche Bewährungsprobe aber gehört notwendig zu dem Menschen als einem verantwortlichen Wesen; jedes Gebot und jedes Verbot stellt den Angeredeten auf die Probe und führt ihn (in diesem Sinn) in Versuchung. Niemals aber ist es dabei die Absicht und (menschlich gesprochen) der Wunsch Gottes, daß wir dieser Versuchung erliegen, in dieser Bewährungsprobe versagen. „Versuchung” meint nicht „Verführung”. Der Teufel ist, wenn er uns „versucht”, der Verführer, der will, daß wir den Namen Gottes nicht heiligen und Seinen Willen nicht erfüllen; Gott als der Versucher ist zugleich der väterliche Freund, der unsere Widerstandskraft in der Erprobung stärken will, und dessen Engel sich freuen, wenn wir die Probe bestanden haben. Ebenso wenig kann die abschließende Bitte um „Erlösung” vom Übel einfach die Befreiung von allen widrigen und peinlichen Störungen unseres Daseins meinen, ein Leben also ohne Leiden und ohne Tod. Das Wort Erlösung schließt in sich das Bild einer Gebundenheit und Gefangenschaft und zugleich einer Freiheit, in der diese Ketten zerbrochen sind und der Verbannte und Gebundene heimkehren darf in den Raum seiner eigentlichen und wahren Existenz. Mit anderen Worten: Wir bedenken, wie sehr das von außen kommende Übel ebenso wie die inwendige Versuchung und Anfechtung den Menschen in seinem innersten Sein gefährden, wie sehr sie ihn dazu treiben und verleiten können, aus seiner menschlichen Bestimmung auszubrechen und den Sinn seiner Existenz, ein Bild Gottes auf Erden zu sein, zu verfehlen. Dieses ist die letzte und gefährlichste Gefährdung, die nicht endet, solange wir als Menschen auf dieser Erde leben; und wir wagen am Ende des Vaterunsers, Gott darum zu bitten, daß wir in aller dieser Gefährdung nicht aufhören, Menschen zu sein, daß das Gottesbild in uns nicht unter dem Druck äußeren Leidens und innerer Verführung ganz und endgültig zerstört werde, und daß wir endlich und schließlich dennoch - trotz aller unabwendbaren Gefährdung - zur Freiheit der Kinder Gottes hindurchgerettet werden. Der Mensch, der das Vaterunser betet, ist der Mensch, der illusionslos um seine Gefährdung weiß, aber, ohne in dieser Gefahr zu kapitulieren, sich ausstreckt nach seiner Rettung und Freiheit. Doch bedarf diese Beschreibung des Menschen, der das Vaterunser betet einer Ergänzung nach zwei Seiten. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Väter, der in den Himmeln ist, kann niemals und in keiner Beziehung ein rein passives sein. Was wir im Hinblick auf die drei ersten Bitten vom Vollzug des göttlichen Willens, von der Huldigung und der Verehrung des göttlichen Namens und von dem aktiven Dienst am kommenden reich gesagt haben, gilt in einer genauen Entsprechung auch im Hinblick auf die Bewährung, Befreiung und Erlösung des gefährdeten Menschen. Da Gott nichts Widersinniges zu tun vermag, kann Er Seine verzeihende Liebe dem nicht gewähren, der seine eigene Schuld „Entschuldigt”, mit ihr liebäugelt und sie eben nicht als wirkliche und bedrückende Schuld vor Gott anerkennt; die Selbstrechtfertigung des mit sich selbst zufriedenen Menschen schließt von der göttlichen Verzeihung aus und macht die Bitte um Vergebung zu einer sinnlosen Phrase, ja zu einer frevelhaften Lüge. In gleicher Weise schließt die Bitte um Bewahrung in der Versuchung und Rettung vor dem Versucher die eigene Wachsamkeit ein; sie verbietet den Leichtsinn, der mit der versuchlichen Situation spielt und verpflichtet zu dem ganzen ernst des sittlichen Kampfes. Nirgends mehr als in diesem geistlichen Kampf gilt die Warnung Qui cherche le péril, y périt. Und die Bitte um die „Erlösung von allem Übel” ist kein Freibrief für den leichtfertigen Mangel an Vorsicht und an Energie im Kampf gegen die uns bedrohenden Übel Leibes und der Seele, so wenig wie das Gottvertrauen den Blitzableiter auf dem Dach verbietet. Was aber hier in der 5. Bitte mit ausdrücklichen Worten gesagt ist, gilt in genauer Entsprechung auch für die beiden anderen Bitten. Könnte der raffinierte Verführer, könnte auch nur der, der für andere zum Versucher wird, ehrlicherweise beten: Führe mich nicht in Versuchung? Wer um seine eigene radikale Gefährdung durch das Böse weiß, kann nicht leichtfertig sich der Verantwortung für seine Brüder, für Ehegatten, Kinder, Freunde, Nachbarn entschlagen. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?” Und schließlich; Wer da weiß, wie sehr wir in der Gefangenschaft dieser Weltsituation des göttlichen Befreiers bedürfen, und wer also das Vaterunser bis zur letzten Bitte in Inbrunst betet, der kann sich der Aufgabe nicht entziehen, selbst an seinem Teil an seinen Mitmenschen zum Werkzeug der Hilfe und Befreiung zu werden. Wie tief sind wir betroffen und belastet davon, daß so viele unserer Freuden „mit fremden Leiden erkauft” sind! Die Freiheit zu der wir erlöst werden sollen, ist niemals eine Freiheit auf Kosten anderer, sondern die Kraft der erlösenden Gottesliebe will durch unseren Dienst und unser Wesen ausstrahlen und hineinwirken in die dunkle Gebundenheit der vielen um uns her. Noch einmal sie dieses gesagt: Es heißt nie „mich”, sondern „uns”; nicht „mein”, sondern „unser”. Der Mensch, der das Vaterunser betet, ist eingeschaltet in den lebendigen Strom der göttlichen Liebe, der durch ihn hindurch sich in die Welt ergießen will, und indem diese Liebe ihm selbst vergibt, ihn bewahrt und erlöst, macht sie ihn zum Werkzeug der gleichen gnädigen Hilfe für seine gleich ihm gefährdeten Brüder. Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 121-127 |
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