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1. Westliche Seelsorge und das Starzentum von lwan Tschetwerikow |
2. Geschichte des Starzentums 3. Asketische Vorbereitung zum Starzentum 4. Typen der Starzen In der geschichtlichen Krise unserer Zeit, in der sich die Frage über Sein ober Nichtsein, nicht nur der heutigen Kultur, sondern der ganzen Menschheit zu entscheiden scheint, entsteht die Frage nach der Krankheit, die diese Krise hervorgerufen hat, ihrer Ursache und ihrer Heilungsmöglichkeit. Aber die Antwort auf diese Frage setzt die Kenntnis der Norm des Menschen voraus. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wendete sich das Interesse der Wissenschaft mehr und mehr dem Menschen und seiner Psyche zu. Damals arbeiteten bedeutende Psychologen, wie W. Dilthey, W. Wundt, Th. Lipps in Deutschland; James, Watson, S. Lashley in Amerika; A. Bergson in Frankreich und J. Pawlow in Rußland. Aber die Aufzählung der großen Psychologen in den verschiedenen Ländern zeigt zugleich ihr Auseinandergehen in bezug auf die Bestimmung der Norm des Menschen: einige suchten sie in der Mechanik der Seele, andere in dem Lebensdrang („élan vital”), wieder andere in physiologischen Prozessen. Dabei geriet die ganze Psychologie in eine „Sackgasse”. Alle suchten die Ursachen der Erkrankung in den äußeren Lebensbedingungen und griffen zu äußeren Mitteln der Heilung. Nur unter den Theologen, die sich in letzter Zeit auch im besonderen mit der Frage der Seelenheilung beschäftigen, fanden sich solche, die versuchten, sie vom religiösen Standpunkt her zu lösen. Dabei erkannten sie aber, daß durch den übersteigerten Intellektualismus und die Rationalisierung der Kultur der Weg zur Seelentiefe, wo allein eine Begegnung mit Gott möglich ist, fast unzugänglich geworden ist. Daraus ist aber die Verkümmerung des religiösen .Lebens entstanden. Regierung und Gelehrte in Rußland sahen zunächst darin nur spezifische Erscheinungen des Westens und hielten das russische Volk im Ganzen für nicht davon betroffen. Anders war darüber die Meinung der orthodoxen geistlichen Kreise. Der hl. Seraphim Sarowskij war schon Ende des 18. Jahrhunderts um Rußland und dessen Zukunft besorgt und sagte: „Durch die jetzige Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben an Gott und an Jesus Christus und durch unsere Unempfänglichkeit gegenüber den Erscheinungen der göttlichen Vorsehung und der Gemeinschaft mit Gott sind wir fast beim Verlust des christlichen Glaubens überhaupt angelangt.” Diese Gedanken beschäftigten seitdem die russische Kirche unaufhörlich, und schon lange hielt sie für erforderlich, daß die Rettung des Menschen durch seine religiöse Wiedergeburt erfolgen müsse, aber nicht mittels rationaler Beweise der Existenz Gottes oder geistiger Aufklärung des Menschen, sondern durch den auf innere Erfahrung gegründeten, mit dem Herzen angenommenen Glauben. Auch von der Kirche im Westen wird die Überwindung der Krise in der Wiedergeburt des Menschen durch den Glauben gesehen. Während aber im orthodoxen Osten der Glaube als aktives, den ganzen Menschen erfassendes Erlebnis, als „geistliches Tun” (russisch: duchownoe delanie) aufgefaßt wird, ist man im Westen - zum mindesten in der evangelischen Kirche - geneigt, den Glauben als „Empfängnis” zu begreifen. „Glauben heißt: an sich geschehen lassen, an sich handeln lassen” (Anm. 1). Auf die Frage: Wie kann dieser Glaube, der die ganze Struktur des Menschen verändert, geweckt werden? geben Westen und Osten verschiedene Antworten. Man unterscheidet in der Regel drei, manchmal auch vier Schichten: die Leibhaftigkeit, die Bewußtseinsschicht mit Verstand und Willen, die Bilderschicht, die eine große Rolle für das künstlerische Schaffen und die religiösen Gefühle spielt, und den „Seelengrund” oder die „letzte Tiefe”, wo jeder Mensch dem andern gleicht, wo er sich mit Gott berühren kann, wohin aber auch die Macht des Bösen reicht. Diesen tiefsten Grund der Seele nennt Joh. B. Lotz, in Anlehnung an Augustinus, das metaphysische Gedächtnis - im Unterschied zum empirischen Gedächtnis - und sieht in ihm, wie die Neoplatoniker, den Grund des Glaubens, den „Nährboden des gesamten geistigen Lebens”. In ihm befindet sich nach seiner Meinung Bild und Ebenbild Gottes. In diesem metaphysischen Gedächtnis erklingt der Ruf Gottes, der anwesend und abwesend zugleich ist. Hier befindet sich auch der Quell der Unruhe, über die Augustinus geschrieben hat: „Du hast uns zu Dir hin erschaffen; und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir.” Im östlichen Heidentum, im Buddhismus, Taoismus und teilweise auch im Konfuzianismus entstand eine Lehre über die Methoden, die die Menschen zur vollen Ruhe (Nirwana) führen sollten. Aber der Ruf Gottes, der aus dem metaphysischen Gedächtnis erklingt, will richtunggebend sein für das ganze innere Leben des Menschen. Diesen Ruf Gottes konnte jedoch der Mensch der Neuzeit nicht mehr hören, weil er sich abgewendet hatte von der letzten Tiefe, bis sie für ihn verschlossen war. Richtung für sein Leben suchte er nur mehr in seinem Verstand oder in seinem Bewußtsein überhaupt und in seinen Trieben. Mehr und mehr sehen westliche Theologen hier die Ursachen für die Krankheit der Menschheit und glauben in der Meditation ein Heilmittel gefunden zu haben. Bei den heidnischen Völkern des Ostens hatte die Meditation das Ziel, den Menschen zur vollkommenen Ruhe, zum Nirwana zu bringen. Von ihnen wurde die Lehre von der Meditation im Westen übernommen. Man hatte ihr eine neue Aufgabe gestellt: die Befreiung des Menschen von der einseitigen Führung durch das Bewußtsein und dem in ihm wurzelnden Verstand und Willen, die an sich keine negativen Kräfte sind, die aber ohne göttliche Führung der Sinnlichkeit untergeordnet bleiben und so den Menschen in das Chaos führen. Die Trennung von Gott hat die Trennung der Menschen voneinander zur folge und macht aus ihnen in sich geschlossene Individuen. Durch das Zurückkehren des Menschen in seine letzte Tiefe kann der wirkliche Glaube an Gott entstehen, nicht als rationalistische Überzeugung vom Dasein Gottes, sondern als unmittelbares Fühlen Gottes in sich und als Hören Seines Rufes. Die Meditation will den Menschen zu seiner letzten Tiefe über die Bilderschicht führen, durch die er zum bildhaften mythologischen Denken kommt. Hier ist der Ursprung nicht nur allen künstlerischen Schaffens, sondern auch aller wissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese letzte Tiefe der menschlichen Seele ist in sich selbst dunkel, weil alles, was dort entsteht, ungegliedert ist, ineinanderfließend, grenzenlos, unbeständig und nicht vom Bewußtsein erfaßbar. Es muß zuvor in die Bilderschicht aufsteigen, um durch Betrachtung der Bilder Gott in der Seelentiefe begegnen zu können. Das ist das Ziel der westlichen Meditation. Die Gefahren der Meditation werden auch von denen gesehen, die sie als heilsame Anwendung empfehlen, und sie fordern darum einen erfahrenen Führer für jeden, der diesen Weg gehen will. Joh. B. Lotz meint, daß solche Führer Priester sein sollten, und empfiehlt als Leitfaden die Regeln, die Ignatius Loyola für seine Exerzitien aufgestellt hatte (Anm. 2). K. B. Ritter spricht auch von den theoretischen und praktischen Methoden der Meditation, die der Führer - ob Theologe ober Psychiater - beherrschen soll, und über Forderungen, die an seine Lebenseinstellung gestellt werden müßten. Aber garantieren die geforderten Kenntnisse auch die Richtigkeit der Diagnose und der Methoden der Heilung? Es ist sehr schwer, die Veränderungen im Innern eines Menschen richtig zu erkennen, weil sie meistens das Resultat einer im Zerfall begriffenen Kultur sind, weil sie von der Individualität des Menschen abhängen und mit ärztlichen Mitteln kaum diagnostiziert werden können. Deshalb bleibt auch fraglich, ob das Resultat der angewandten Methode eine endgültige Heilung bedeutet. Abgesehen von der Meditation ist auch alle Seelsorge, die sich auf Wissenschaft gründet, problematisch, weil diese Wissenschaften als hypothetisch und wandelbar angesehen werden müssen. die Seelsorge aber, als Hilfe zur Neugeburt in das ewige Leben, kann sich nur gründen auf die ewige Wahrheit. Die Vorbereitung zum Starzentum besteht nicht in dem Erlernen der Psychologie oder Psychotherapie ober in dem Studium der Meditationsmethoden östlicher ober westlicher Bewegungen, und überhaupt nicht in wissenschaftlichen Studien, sondern in jahrelanger Arbeit an sich selbst, bei welcher Gebet und „geistliches Tun” im Vordergrund steht, wie später noch genauer dargelegt werden soll. Die Arbeit des Starzen an sich und an seinen „Kindern” ist so kompliziert, daß sie viele Jahre beansprucht. Wir werden noch sehen, daß die „Kinder” des Starez Makarij aus Optina (z. B. der russische Philosoph Kireewskij) unter dem Einfluß ihres Starez bis zu ihrem oder seinem Tode blieben. Man nennt die Menschen, die sich der Leitung eines Starez anvertrauen, gewöhnlich die Kinder des Starez und ihn selbst den Vater. Der Patriarch Kallist schrieb: „Zuerst bemühe dich, einen Starez als Leiter für dich zu finden, und wenn du ihn gefunden hast, dann vertraue dich ihm an, wie ein liebender Sohn es tut bei seinem leiblichen Vater, und befolge seine Weisungen, als kämen sie von Christus.” Johannes Klimakus (6. Jahrh.) sagt: „Den richtigen Leiter wird dir die Liebe zeigen” (Klimakus: „Rede an die Christen”, Kap. 5, 5). Auf die Liebe sollen sich alle Beziehungen gründen, einbeziehend das „Kind” in die geistige Atmosphäre des „Vaters”. Wenn der Starez kein Mönch ist, so soll er wenigstens im Kloster wohnen und sich den Regeln des Klosters fügen, doch nicht, um dadurch Eindruck bei seinen Kindern zu machen, sondern aus inneren Gründen. „Die Engel sind das Licht für die Mönche, und das mönchische Leben ist das Licht für alle Menschen”, so schreibt der hl. Johannes Klimakus (Predigt 26, § 36). Die Hauptaufgabe im Dienst an den Menschen bestand für die Starzen darin, sie aus der Zeit der Ideen und Symbole, in die der menschliche Verstand (Postulate der praktischen Vernunft) im Laufe der Geschichte alle Dogmen, die Kirche, die Sakramente und sogar Gott selbst verwandelt hatte, in die Wirklichkeit des lebendigen Gottes und Seiner Vorsehung zu führen. Der Theologe Kabasilias (gest. 1371) schildert das ganz reale Eingehen Gottes in den Menschen durch die Sakramente (Anm. 3). „Gott hat uns zuerst (πρωτος) geliebt” (1. Joh. 4, 10 u. 19), als wir Ihn noch nicht liebten. Er sucht uns, die wir von Ihm weggelaufen sind, wie ein guter Hirte sein verlorenes Schaf sucht. Nach dem kühnen Ausdruck der alten Väter wird der Mensch in der Kirche und durch die Sakramente der „zweite Christus”. Das ist wirkliche Vereinigung mit Christus, aber nicht ein symbolisches Erlebnis; das ist wirkliche Umgestaltung des Willens und des ganzen moralischen Lebens des Menschen. Diese Kirche - die sich nicht mit den kirchlichen Organisationen deckt - ist die reale Kraft als Konzentration der göttlichen Liebe, die uns verwachsen (συμφυομαι Röm. 6, 5) läßt mit Christus, wie die Reben mit dem Weinstock. Der Mensch in der Kirche ist nicht isoliert, er ist in Gott und mit allen „Heiligen” vereint zu einer Familie. Er kann sich nicht mehr schwach und verloren fühlen, er wird im Gegenteil ein immer größeres Verlangen nach Vereinigung mit Gott und Seinen Kindern haben. Das ist die kirchliche Atmosphäre und die Stimmung des kirchlichen Gottesdienstes, wo die Kirche im Himmel und auf Erden eins wird. Man könnte fragen: Warum konnte der Einfluß der Starzen das russische Volk vor dem Absinken in den Bolschewismus nicht bewahren? Es ist wohl ihrem Einfluß zuzuschreiben, daß die seit 1905 versuchten Revolutionen in Rußland im Keime erstickten, bis auf die letzte. Inwieweit die bildenden Kräfte der Starzen auch jetzt noch verborgen im russischen Volke wirksam sind, und wer in diesem Ringen um Gut und Böse zuletzt den Sieg davontragen wird, muß sich erst noch erweisen. Anmerkungen: 1: Karl Bernhard Ritter: „Über die Meditation als Mittel der Menschenbildung” (S. 59 -60) 2: „Geist und Leben” (1951, Heft 1, S. 42). 3: In Mignes Patrologia Graeca (Bd. 150). Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 46-51. |
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