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Das Starzentum
2. Geschichte des Starzentums
von Iwan Tschetwerikow

1. Westliche Seelsorge und das Starzentum
3. Asketische Vorbereitung zum Starzentum
4. Typen der Starzen

LeerBischöfe und Presbyter in der urchristlichen Kirche hatten drei Aufgaben zu erfüllen: zu predigen, zu zelebrieren und die Glieder der Kirche zu einem christlichen Leben anzuleiten. Aber das Wachstum der Kirche machte es notwendig, daß für die dritte dieser Aufgaben noch andere, besonders befähigte Menschen eingesetzt werden mußten, sogenannte „πνευματικος πατηρ”. Im 4.Jh. werden sie in der kirchlichen Literatur bereits erwähnt. Ihnen wurde auch die Führung der jungen Mönche anvertraut. Solche Führer, die später in Rußland Starzen genannt wurden, hatten zunächst die Aufgabe, ihre Schüler zu lehren, dem eigenen Willen zu entsagen. Von der Wichtigkeit dieser Erziehung sprachen schon der hl. Basilius der Große (+ 379), der hl. Ephraim aus Syrien (306 - 373), Nilus von Asyra (+ 430) und andere. Der hl. Johannes Klimakus (579-649) nannte dieses Absagen vom eigenen Willen „Begräbnis seines Willens” oder „der freiwillige Tod” und stellte diese Übung auf die vierte Stufe seiner „Paradiesischen Leiter”. Diese Willensentsagung forderte einen Gehorsam bis zum Tode.

LeerWie sich solcher Gehorsam auswirken kann, geht aus der Geschichte von „Dorotheus und Dositheus” hervor, die in dem von den Mönchen hochgeschätzten Buche des hl. Dorotheus „Geistliche Gespräche” berichtet wird. Der hl. Dorotheus (+ 540), Abt eines Klosters bei Goza, hatte einen Schüler Dositheus, der mit ihm „unter einem Joch zusammenging”. Er hatte von ihm das unaufhörliche Jesusgebet gefordert und ihn noch in dessen schwerer Krankheit ermahnt: „Höre, vergiß es nicht!” Er bekam zur Antwort: „Ich werde mich bemühen, bete für mich.” Als sich die Krankheit verschlimmerte, fragte ihn der Abt: „Nun, mein Dositheus, wie steht es mit dem Gebet, erfüllst du es noch?” „Ja, mein Herr, dank deiner Gebete”, erwiderte dieser. Nachdem der Zustand des Kranken so schmerzhaft wurde, daß er nur noch durch Anheben des Lakens gedreht werden konnte, wurde er von seinem geistigen Vater wieder gefragt: „Wie steht es mit dem Gebet, Dositheus?” Mit schwacher Stimme gab er zurück: „Verzeih, mein Herr, ich kann es nicht mehr wiederholen” und er bekam die Antwort: „Nun laß das Gebet, aber bewahre immer Gott den Herrn in deinem Gedächtnis und vergiß nicht, daß Er immer bei dir ist”.

LeerAls Dositheus seine Schmerzen als unerträglich empfand, bat er: „Entlaß mich, ich kann nicht mehr leben.” „Dulde noch ein wenig, mein Sohn, Gottes Gnade, ist nicht mehr weit” erwiderte Dorotheus. Aber er verließ den Kranken mit Unruhe im Herzen, weil er fürchtete, daß dessen Qualen zu groß seien. Am folgenden Tage besuchte er ihn wieder und wurde mit den Worten empfangen: „Herr, ich kann nicht mehr.” Darauf sagte Dorotheus: „Nun, so stirb in Frieden, stelle dich vor die heilige Dreieinigkeit und vertritt unsere Anliegen.” Dositheus starb wirklich kurz darauf. - Etwas Ähnliches ereignete sich im Leben des Starez Seraphim von Sarow, wovon später noch die Rede sein wird. Die Forderung des unbegrenzten Gehorsams bedeutete nicht die Unterdrückung des Willens in der Seele, denn 1. war der geistige Vater dem Schüler nicht von außen und gegen dessen Villen zugeordnet, sondern war von ihm selbst für sein ganzes Leben gewählt worden; 2. erforderte gerade der unaufhörliche Gehorsam eine große Anspannung und Beherrschung des Willens; es handelte sich ja nicht um eine Drangabe des Willens überhaupt, sondern um eine Entsagung des „eigenen Willens”, in der Philosophie mit Autonomie des Willens bezeichnet, und 3. soll solcher Weg des Gehorsams dazu führen, dem Willen Gottes gehorchen zu lernen.

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LeerDie nächste Aufgabe des geistigen Vaters bestand darin, den Schüler das Beten zu lehren. Schon Clemens Alexandrinus und sein Schüler Origenes unterschieden von dem gemeinsamen Gebet im Gottesdienst das „Gebet im Kämmerlein” bei verschlossenen Türen (Matth. 6,6); beide nannten es innerliches, wortloses Herzensgebet vor dem inneren Altar, das „Stehen vor Gott” (δοξολογια = Lobpreis). In solchem Beten wurde die große Bedeutung für das geistige Wachstum des Menschen gesehen. Makarius der Ägypter (+ 390) nennt es in seinen „Fünfzig geistlichen Homilien” eine geistige Tat. Auf diesen Standpunkt stellten sich auch die russischen Starzen, für welche die Homilien des Makarius das Handbuch waren. Bei Simeon dem Neuen Theologen (+ 1022) ist dieses Beten in seinen „Hymnen” aufs Höchste erhoben; aber mit ihm endet die patristische Epoche, die solche Gebete hervorbrachte. Eine Ursache dieses Verfalls war die Verwechselung geistiger Führung mit der Verwaltung des Bußsakramentes; die Enthüllung der Seele dem Starez gegenüber wurde mißverstanden als Buße der Sünden. In der „Epistola de confessione”, die Simeon dem Neuen Theologen zugeschrieben wird, wurde die Absolutionsgewalt auch den Mönchen, die nicht Priester, aber geistige Väter waren, zugesprochen. Dieses Werk wurde wiederum ein Anlaß zur Ablehnung des Starzentums in weiten Kreisen.

LeerIm 14.Jh. erscheint das Starzentum auf dem hl. Athos und wurde von dort durch den Abt Nil Sorskij (1433 - 1508), der im Sinne des hl. Sergius von Radonesch erzogen worden war, nach Rußland gebracht. Ein Schüler des hl. Sergius, Pawel von Obnora (1317 -1429), der spätere Gründer und Abt eines Klosters in der Nähe des Flusses Obnora, hinterließ Schriften mit Anleitungen für das Leben der jungen Mönche und u. a. für das geistige Gebet, das Schweigen und für asketische Übungen; ein Zeichen dafür, daß ihm und seinem geistigen Vater das Starzentum schon bekannt war. Unter den Mönchen des hl. Sergius entstanden schon zu dessen Lebzeiten und auch nach seinem Tode zwei Strömungen. Ein Teil der Mönche überschritt die Wolga, um in den tiefen Wäldern kleine Skyten zu gründen. Sie führten ein asketisches Leben, verzichteten auf Eigentum, ordneten sich den Starzen unter und übten religiösen Einfluß aus auf die Bauern, die zu ihnen kamen. In der zweiten Hälfte des 15. Jh. wurde der Abt Nil Sorskij geistiger Führer dieser Skytenmönche und bestärkte sie besonders im Verzicht auf Besitz, in der Pflege des Starzentums und in ihrer Arbeit am Volke.

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LeerDer andere Teil der Mönche des hl. Sergius hatte in der Nähe von Moskau große Klöster gegründet und strebte überhaupt nach Vergrößerung des Klosterbesitzes, um damit in Notzeiten den Fürsten und dem Volke helfen zu können. Josif von Wolokolamsk (+ 1515) wurde ihr Führer. Er unterstützte, entsprechend seiner eigenen Forderung von strenger Disziplin und ausgedehnter Macht der Äbte in den Klöstern, die Idee der Selbstherrschaft des Zaren und versuchte sie religiös zu rechtfertigen. Die entgegengesetzte Haltung dieser beiden Strömungen gegenüber dem Besitz und ihr verschiedenes Interesse gegenüber dem Fürsten einerseits und dem einfachen Volke andererseits führte zu erbitterten Erörterungen zwischen den Mönchen, die schließlich zu einer Verfolgung der Skytenmönche von Seiten der unter dem Einfluß von Josif von Wolokolamsk stehenden Fürsten ausarteten. Josif blieb Sieger in dem Streit. Die Skyten wurden fast vollständig zerstört und die Mönche und Starzen, soweit sie nicht verhaftet oder getötet waren, flüchteten in die nördlichen Wälder, wo das Volk keinen Zugang mehr zu ihnen hatte. Dadurch wurde der Widerstand im Volk gegen die schon seit Iwan III. vom Westen eindringenden Säkularisierungsbestrebungen sehr geschwächt. Trotzdem blieb aber in der Seele des Volkes noch die Frömmigkeit seiner Starzen und deren Einfluß lebendig. Aus einem gewissen Widerstand heraus entstand die sogenannte altgläubige Bewegung, und später - unter den Intellektuellen - die der Slawophilen, mit ihrer bewußten Ablehnung westlicher Kultur. Im 18. Jh. erkannten einige Bischöfe, unter ihnen der Metropolit Gabriel von Nowgorod und Petersburg, die negativen Wirkungen der kirchlichen Reformen Peters I. und seiner Nachfolger und die Notwendigkeit der Wiedererweckung des Starzentums.

LeerWesentliches zu seiner Wiedererweckung in Rußland trug der Starez Paisij Welitschkowskij, Archimandrit des Njametz-Klosters in Moldau, bei. Er war 1722 in Poltawa in Rußland als Sohn eines Geistlichen geboren. Im Alter von 19 Jahren wanderte er nach dem hl. Athos und wurde dort ein Starez. In Athos lebte er ganz allein in einer verlassenen Hütte, bis sich nach Jahren mehr und mehr Schüler zu ihm gesellten. Wegen Mangels an Raum wanderte er mit 60 von ihnen nach Moldau, wo dieser Gruppe ein verlassenes Kloster angeboten wurde. Die Zahl der Mönche wuchs dort bis auf 500. Paisij lehrte seine Mönche die in Athos geübte Askese und fügte die intellektuelle Arbeit der Übersetzung der Schriften der hl. Väter aus dem Griechischen in die russische Sprache hinzu, womit er die sprachkundigen Mönche beschäftigte. Besonders wichtig ist seine Übersetzung der „Philokalia” (Russ.: „dobrotoljubie”), des einzigen Buches, das von der Synode als Handbuch für Mönche und Laien herausgegeben wurde. Viele seiner Schüler übersiedelten nach Rußland und waren dort als Starzen tätig. Obgleich hier das Starzentum anfänglich auf Widerstand stieß (z. B. erlebte der hl. Seraphim von Sarow schwere Verfolgungen von Seiten der Mönche), überstand es doch die schwere Periode. Die Zeit vom Ende des 18. Jh. bis fast zur Revolution 1917 kann als die Blütezeit des Starzentums in Rußland bezeichnet werden.

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LeerArchimandrit Leonid, der die erste Geschichte von Optina Pustyn geschrieben hat (1847), führt die Entstehung dieser Klosters auf das 15. Jh. zurück. Es wurde von einigen Mönchen ohne jede Beihilfe der Kirche erbaut und blieb arm, nur auf den Arbeitsertrag der wenigen Mönche und auf Almosen angewiesen. Unter Peter I. fing eine tragische Periode seiner Geschichte an. Nach einem kaiserlichen Erlaß vom 30. Januar 1701 wurde den Mönchen verboten, Tinte zu besitzen; 1703 wurden die Bauten neuer Klöster untersagt. Ein Erlaß vom 18. Januar 1723 verbot die Einweihung neuer Mönche; die durch den Tod von Mönchen freigewordenen Plätze durften nur mit Altersinvaliden aus dem Militärdienst ober entlassenen Sträflingen und später (5.Februar 1724) auch mit verwitweten Geistlichen wieder besetzt werden. Diese Erlasse verwandelten die Klöster in Zufluchtsstätten, die aufhörten, geistliche Schulen zu sein. 1743 wurden alle diese Erlasse von der Zarin Elisabeth bekräftigt und folgendermaßen ergänzt: „Die Bischöfe, in deren Diözesen Übertretungen vorkommen, sind mit einer Geldstrafe von 500 Rubel zu belegen, und die verantwortlichen Äbte sind aus dem Mönchsstand auszuschließen und in die ewige und schwerste Arbeit zu verschicken” (Anm. 1). Das gleiche Ziel verfolgte das Verbot des Druckens religiöser Bücher, die nur mit besonderer Erlaubnis der Synode in kirchlichen Druckereien hergestellt werden durften (Erlaß vom 27. 7. 1787), die es aber praktisch gar nicht gab. In dem gleichen Jahre erfolgte noch das Verbot, religiöse Bücher in russischer Sprache aus dem Ausland zu beziehen. Die Folge dieser Maßnahmen war eine stete Verminderung der Zahl der Mönche in den Klöstern. Im Jahre 1724 waren noch 12 Mönche in Optina Pustyn; 1773 waren es nur zwei, ein 74jähriger Priester und ein 90jähriger blinder Diakon. Nach einer Anordnung aus dem Jahre 1724 sollten die Klöster mit einer kleinen Zahl von Mönchen „sehr vernichtet” werden; darunter fiel auch Optina Pustyn. Beide Mönche mußten in das Kloster der Verklärung nach Beljow übersiedeln und alles, was nur irgendwie zu transportieren war, diesem Kloster übergeben.

LeerZwei Jahre später wurde durch die Heilige Synode die Wiederherstellung des Klosters Optina Pustyn in seinen früheren Zustand angeordnet. Dies geschah nicht aus moralischen oder religiösen Erwägungen, sondern auf die ausdrückliche Bitte des Bojaren Dmitry Schepelew und seiner Kameraden, die versprachen, alle Kosten für die Wiederinstandsetzung des Klosters aus ihren Mitteln zu bestreiten. Aber nur langsam konnte das Kloster wieder erstehen, Denn die von Schepelew zur Verfügung gestellten Gelder waren sehr knapp bemessen. Erst 1795, als durch Plato, Metropolit von Moskau und Kaluga, die Wiederherstellung der zerstörten Klöster veranlaßt wurde, förderte er auch die Wiedereinrichtung des Klosters Optina Pustyn sehr. Er besuchte selbst dieses Kloster und war entzückt von seiner herrlichen Lage: weit von der Stadt und von allen Straßen, umgeben von einem großen Walde. Er wollte es in ein vorbildliches Kloster verwandeln. Das Vorhaben des 1819 neugeweihten Bischofs von Kaluga, Philaret, bei Optina Pustyn einen Skyt zu gründen, als größtes asketisches Institut für besonders ausgewählte Mönche, und in dieses die berühmten Starzen aus den roslawlschen Wäldern zu berufen, erforderte sehr viel Zeit. Erst im Jahre 1825 wurde der Priestermönch Moysey zum Abt von Optina Pustyn und dem dabei entstandenen Skyt ernannt. Seine geistige Führung hatte er von Schülern des Paisij Welitschkowskij erhalten. Als er 23 Jahre alt war, lernte er den hl. Seraphim von Sarow kennen. Im Geiste dieser beiden großen Starzen der Neuzeit erzog er als erster Starez in Optina Pustyn die Mönche in dem Skyt. Mit ihm begann die Blütezeit des Starzentums in Rußland.

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LeerIhm folgten berühmte Starzen wie die Priestermönche Leonid, Makarij und Ambrosij. Die Tätigkeit dieser Starzen übte auf die Gelehrten Rußlands (Professoren der Universitäten und Akademien und Schriftsteller wie Golubinskij, Glubokowskij, Kireewskij, Gogol, Alexeij Tolstoi, Leo Tolstoi, Dostojewski, Wladimir Solowjow, K. Leontjew, Philippow u. v. a.) einen großen Einfluß aus, ebenso auf die Frauen Rußlands. Unter den Revolutionären war man sich darüber klar, daß es eine außerordentlich wichtige Aufgabe sei, die russische Frau für ihre Ziele zu gewinnen, da gerade sie eine geachtete Stellung in der Gesellschaft einnahm und einen großen Einfluß auf ihre Familie und die öffentliche Meinung hatte. Aber Seraphim von Sarow (1759 - 1833), der eine schwere Zeit für Rußland kommen sah, hielt es für nötig, die Frau geistig so zu heben und zu fördern, daß sie einmal fähig sein würde, durch ihr Wirken in der Familie und in der Öffentlichkeit „die schwere Zeit zu verkürzen”. In diesem Bestreben folgten ihm die Starzen von Optina Pustyn. Im Jahre 1862 wurden die Briefe des Starez Makarij herausgegeben, von denen vier Bände speziell an Frauen gerichtet waren, während nur je ein Band an Mönche und an Laien gerichtet war. Die letzten Starzen vor der Revolution 1917 waren die Priestermönche Anatolij und Nektarij. Aber sie hatten schon keinen großen Einfluß mehr auf das russische Volk, und man nennt diese Periode den „Herbst des Starzentums”. Im Jahre 1921 verjagten die Bolschewisten die Mönche und verwandelten das Kloster Optina Pustyn in ein Sanatorium für bolschewistische Aktivisten. An Stelle des Glockengeläutes und der heiligen Lieder hört man jetzt das Getön des Radios; anstatt der Mönchskutten sieht man die bolschewistischen Kopfbedeckungen. [Anmerkung: Optina Pustyn ist nach dem Ende der kommunistischen Ära wieder in ein Männerkloster umgewandelt worden]

LeerEs entsteht die Frage: konnte der Einfluß der Starzen die Bolschewisierung Rußlands nicht verhüten? Aber noch ist das Starzentum nicht ganz vernichtet, es wirkt nur im Verborgenen und man kann hoffen, daß auf den Herbst und Winter im Starzentum noch einmal ein Frühling folgt.


1: „Geschichte der Optina Pustyn in Koselks”, 1902. Verlag des Klosters „Troizky Sergiewskaja Lawra”.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 98-102

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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