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Das Starzentum
3. Asketische Vorbereitung zum Starzentum
von Iwan Tschetwerikow

1. Westliche Seelsorge und das Starzentum
2. Geschichte des Starzentums
4. Typen der Starzen

LeerWeder in der russischen noch in der westlichen Literatur gibt es Arbeiten über die Vorbereitung zum Starzentum. Wir wissen aber aus den Lebensbildern der großen Starzen, wie Serafim von Sarow, Nil Sorskij, Sergij von Radonesch, Paisij Welitschkowskij und derer von Optina Pustyn, daß sie alle eine langen asketischen Weg zurückgelegt hatten, der sie in die Einsiedelei, in das Schweigen, in das Gebet und in das aufmerksame Lesen heiliger Schriften geführt hatte. Einige der Starzen hatten mittlere oder auch höhere theologische Bildung, wie z. B. der Einsiedler Theophanes (russ. Feofan Zatwornik), andere hatten keine spezielle theologische Bildung wie Serafim von Sarow, Leonid aus Optina und der letzte Starez in Optina, Nektarij (gest. 1928) u. a.; sie waren aus dem Volk hervorgegangen und ihr Weg zum Starzentum, wie auch der vieler uns unbekannter, zerstreut in den tiefen nördlichen Wäldern oder in der Gegend von Roslawl lebender Starzen, bestand in ihrem asketischen Leben und in dem Lesen religiöser Schriften unter Anleitung gebildeter Mönche. Solches Lesen war ebenso wichtig wie die Askese. Manche Skiten und Klöster hatten ihre eigenen Bibliotheken, meist mit handgeschriebenen Seiten, so die Klöster „Troize-Sergiewa-Lawra”, „Dragomiena”, „Optina”, in Rostow u. a.

LeerDie asketischen Übungen bestanden in Klausur und Schweigen einerseits und Gebet und Lesen andererseits. Dabei hatte das Schweigen - ein Schweigen, das nicht aus einer Leere der Seele kam, sondern aus der Vertiefung in sich selbst - eine große Bedeutung. Das Leben eines jeden Menschen beginnt im Schweigen und endet im Schweigen. Die alte Lehre von John Locke über die Seele des Kindes als „tabula rasa” ist schon lange überholt. Die Beobachtungen am Säugling sprechen dafür, daß er ein inneres Leben hat: er weint, er erschrickt, er lächelt, er fürchtet Dunkel und Einsamkeit, er wendet sich ab von fremden Menschen. Den ersten Schrei des Neugeborenen darf man nicht zurückführen auf die Veränderung der Temperatur oder der Umgebung, er ist die Reaktion auf die neuen äußeren Eindrücke, die auf sein Bewußtsein einfallen durch seine mit der Geburt geöffneten äußeren Sinne. Kälte und Wärme, Licht und Dunkelheit, Stille und Lärm, Müdigkeit und Erwachen, Hunger und Gesättigtsein. Alles das dringt unerwartet und gewaltsam auf ihn ein, und das Bewußtsein, das im Schoße der Mutter ungestört ruhte, wird durch die Geburt erregt von der Fülle der es bedrängenden wechselnden Eindrücke. Die Seele des Kindes wird bewegt, gleich den chaotisch sich überstürzenden Meereswellen im Sturm. Das Chaos flößt dem Kinde Schrecken ein; es muß sich einen Standpunkt der Sicherheit erringen. Diese Sicherheit findet es zunächst bei seiner Mutter, deren Liebe in es eindringt als Liebe in die Dunkelheit, als Stütze in dem Chaos.

LeerEin anderer Sicherheitsfaktor, ein physischer, ist der Schlaf. Schlaf und Liebe bewahren das Kind vor dem Versinken im Chaos. Diese Liebe ist kein Gefühl, sie ist Kraft Gottes, die sich verkörpert in der Liebe der Mutter und die eingeht in die Seele des Kindes. Die Liebe ist das Sein, nach dem der Mensch - und unbewußt schon das Kind - strebt; denn die Seele ist kein Sein, das Grund in sich selbst findet, sondern sie ist das Streben nach dem Sein.

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LeerDie Lehre Descartes' über die Seele des Menschen als geschaffene Substanz ist logisch nicht richtig. Nichts Geschaffenes hat einen Grund in sich selbst, sondern nur im Schöpfer, und darum ist die Seele nicht Substanz oder Sein, sondern eine Strebung, ein Dürsten nach dem Sein, das Verlangen nach dem Wiedergeborenwerden in das Sein, in das die ganze Kreatur einbezogen ist (Anm. 1). Dieses Streben nach dem Halt gegenüber dem Chaos ist im Menschen während seines ganzen Lebens. Bei den russischen Schriftstellern Tjutschew und Dostojewski, beide Künstler und Philosophen, finden wir ein Wissen um dieses Chaos, mit dem sie rangen bis zu ihrem Tode. In einem Gedicht beschreibt Tjutschew das Chaoserleben als das eines einsamen Ruderers im tobenden Meer. Dostojewski schildert in seinem Roman „Idiot” zwei Typen der menschlichen Beziehung zu diesem Chaos: Fürst Mischkin, der es durch Liebe überwinden wollte, und der Kaufmann Rogoschin, der glaubte, sich vor dem Chaos in die Leidenschaft retten zu können. Tjutschew verdeckte das Chaos mit „der goldbestickten Decke” der Kultur. Aber das alles bedeutet keine Rettung aus dem Chaos. Auch die Liebe rettete den Fürsten Mischkin nicht, denn es war nicht die göttliche Liebe. Nach der orthodoxen Lehre kann das Chaos nur überwunden werden durch die Liebe Gottes, die man wie das kleine Kind erfährt im Schweigen und in dem Versenken in sich selbst; dann strahlt der Mensch diese Liebe aus in die Welt, zunächst auf die Menschen. In diesem Sinne kann gesagt werden, daß das Schweigen die wichtigste Vorbereitung für den Starzen ist.

LeerDie Mutter spricht Worte der Liebe mit dem kleinen Kind und lehrt ihm damit allmählich das Sprechen. Und jedes Wort des Kindes bringt eine Ordnung in seine chaotischen Erlebnisse. Liebe und Wort sind zwei Faktoren, die dem Menschen helfen, das Chaos in seiner Seele zu ordnen, Liebe in die Dunkelheit zu bringen. Liebe und Wort sind der Weg, auf dem die Stütze zu finden ist, die vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt. Liebe und Wort kommen von Gott, zuerst über die Mutter und später über die Kirche. Durch Liebe und Wort hat Gott die Welt aus dem Nichts, aus dem Chaos geschaffen. Liebe und Wort lehrte er dem Menschen im Paradiese, der Wiege der Menschheit. Liebe und Wort, von Gott im Fleisch in die Welt gesandt, demütigte sich bis zum Tode zur Rettung des Menschen und machte ihn zu seinem „Mitarbeiter” (1. Kor. 3, 9), um „die Gemeinschaft des Geheimnisses, das von der Welt her in Gott verborgen gewesen ist”, zu gründen (Eph. 3, 9). Die nächsten Mitarbeiter Gottes sind die Eltern in bezug auf die Kinder, die Priester in bezug auf die Glieder der Kirche, die Starzen und Missionare in bezug auf die Menschen, die in die Kirche eingehen wollen.

LeerVor dem Menschen stehen von seiner Kindheit an zwei Aufgaben: sich zu bewahren vor dem Sturz in den Abgrund und eine Ordnung in das Chaos zu bringen. Diese Aufgaben bleiben ihm gestellt in seinem ganzen Leben, bis zu seinem Tode. Dabei geht er oft „krumme Wege”. Er will das Chaos nicht sehen und versucht es zu verdecken mit der „goldbestickten Decke” der Kunst und Kultur überhaupt, er vermeidet in die Tiefe seiner Seele zu dringen und „zerstreut” sich an der Oberfläche des Lebens, er versucht sich in sein Ich zu retten, indem er es zum Zentrum der Welt macht. Aber das alles bedeutet keine Rettung. Nach den Worten Jesus Sirach begleitet die Weisheit Gottes den Menschen auch auf seinen krummen Wegen, aber sie „prüfet ihn mit ihrer Rute und versucht ihn mit ihrer Züchtigung, bis sie befindet, daß er ohne Falsch sei, dann wird sie wieder zu ihm kommen, um ihn zu erfreuen” (Sirach 3,19 und 20). Der Mensch soll sich weder verstecken noch fliehen vor dem Chaos, denn er ist „Mitarbeiter Gottes” in der Geburt des Kosmos aus dem Chaos. Er soll in die Tiefe seiner Seele tauchen, um das Chaos zu sehen. Hier wird er die Stimme des göttlichen Lebens vernehmen, hier wird er seine „krummen Wege” erkennen und zu dem rechten Weg zurückfinden, der zu Gott führt. Solche Vertiefung im Schweigen hat große Bedeutung für die erzieherische Tätigkeit des Starzen. Im Schweigen und in der eigenen Tiefe kann er die Abweichungen vom rechten Wege, die Entstehung der Sünde und die Mittel, sie zu bekämpfen, erkennen. Dieses Schweigen ist eine jahrhundertelang erprobte Vorbereitung für das Starzentum.

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LeerDas Gebet und das Wort sind engst miteinander verbunden. In der göttlichen Offenbarung finden wir die metaphysische Lehre über das Wort. In der Heiligen Schrift ist das Wort ein metaphysisches Sein. „Im Anfang war das Wort . . . und Gott war das Wort ... alle Dinge sind durch das selbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist” (Joh. 1, 1 und 3). „Und das Wort ward Fleisch” (Joh. 1, 14): es trat aus der Ewigkeit in die Zeit hinein, wurde Gottmensch, Retter der Welt. Das Wort wird die Welt richten am Jüngsten Tage (Joh.12, 48). Es ist der Same (Mark. 4, 14; Luk. 8,11), es hat einen Keim, es wächst und, sich vermehrend, bringt es hundertfältige Frucht (Matth. 13, 23). Das Wort als Same soll in den Menschen Raum finden (ο λογος ο εμος ου χωρει εν υμιν Joh. 8, 37). Das Wort ist Gottes Reich, das wachsen soll in der Welt, ganz unabhängig von den menschlichen Bedingungen, allein durch die ihm innewohnende Kraft (Mark. 4,26 und 27). Dieses Wort hat nichts Gemeinsames mit unserem Begriff vom Wort als Summe von Lauten zur Bezeichnung von Objekten und Erscheinungen der Welt in ihrer praktischen Bedeutung für das Leben. Nach der Heiligen Schrift war Gott dem Menschen ganz zugewendet, als er mit ihm redete; aber das waren nicht Worte nach unserer heutigen Auffassung, es war vielmehr die Offenbarung der Beziehungen Gottes zum Menschen: Seine Liebe und Sein Wille.

LeerDarum konnte auch das in der Heiligen Schrift erwähnte Hören der Stimme Gottes niemals nur ein Aufnehmen mit dem .Ohr sein; es waren alle Sinne dabei beteiligt. Unsere Erkenntnis Gottes nannte der Apostel Paulus „ein guter Geruch Christi” (2. Kor. 2,14 und 15). Nicht nur der Verstand und nicht nur das Ohr, sondern der ganze Mensch mit all seinen äußeren und inneren Sinnen wird angesprochen von Gott. David und auch der Apostel Petrus sprechen vom „Schmecken” der Freundlichkeit des Herrn (Ps. 34, 9; 1.Petr. 2, 3). Der altgriechischen Sprache und Literatur war das Wort in der biblischen Auffassung noch verwandter als unser heutiges Verständnis des Wortes. Schon das gewöhnliche Gespräch wurde bei den alten Griechen singend und mit mimischen Bewegungen geführt. Und die Lyriker schrieben in ihren Oden nicht nur die Worte, sondern schufen auch die Musik und den Reigen dazu. Die Ode wurde dem Publikum singend und tanzend vorgetragen; nicht nur die Stimme, sondern der ganze Mensch war dabei aktiv. Der ganze Mensch wurde Wort. So wird das Gebaren der Mutter für den Säugling, der noch kein Wort versteht, „Wort”, indem er die ihm zugewandte Liebe in der Stimme, in der Mimik fühlt; er empfindet die Musik der ihm unverständlichen Worte und er antwortet mit Lächeln, mit dem nach der Mutter ausgestreckten Händchen, mit seinem ganzen Wesen. Hier kommt noch etwas zum Ausdruck von dem Ursprung des Wortes. Matth. 18, 3 kann auch von hier aus verstanden werden. Wie Gott das Wort gebar und sich durch dasselbe der Welt offenbarte, so soll auch der Mensch, nach Gottes Bild geschaffen, das Wort gebären, d. h. seine Seele Gott und den Menschen offenbaren.

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LeerDie Geschichte der Sprache besteht aus der allmählichen Abstrahierung der Laute von dem ganzen Menschen, und aus dem Menschwort wurde das Lautwort nach unserem heutigen Verständnis des Wortes, das mit dieser Abstraktion seinen tiefen Sinn verlor und zum subjektiven Zeichen wurde. Damit verlor die Sprache aber auch ihre Lebendigkeit, und schließlich endet sie im Esperanto. Diese Entwicklung wurde die Ursache, daß der Mensch der Fähigkeit verlustig ging, in den anderen Menschen einzugehen oder sich ihm zu öffnen. Heute kann er nur noch mittels der Wortzeichen erraten, was etwa in dem anderen Menschen vorgeht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Rußland das Sprichwort: „Tschushaja duscha-potjomki” (die fremde Seele ist im Dunkeln). Ein in unserer Zeit weit verbreiteter Einwand gegen die Existenz Gottes besteht in der Behauptung, daß Gott schweigt. In Wirklichkeit schweigt Gott nicht, aber wir haben die Fähigkeit verloren, Gott zu hören. Wir vereinsamten in der Welt. Aus Furcht vor der inneren Leere wagt der Mensch nicht mehr, in die Tiefe seiner Seele zu tauchen, und flüchtet in den Lärm, in das Tempo, wo er die Stimme Gottes nicht hören kann. Er muß zurückfinden zu dem lebendigen Wort, das zur Vereinigung mit Gott und den Menschen führt. Im Gebet muß er zum Gespräch mit Gott kommen. Nach all dem über das Wort Gesagte muß man unterscheiden zwischen Wort-Leib, das sind Laute und Mimik - letztere in Ausdrucks- und Darstellungsbewegungen - und Wort-Geist, der aus Vorstellungen, Bedeutung und Sinn besteht. Mit seinem Sinn ist das Wort sehr tief in der Seele verwurzelt. Die Lauthülle des Wortes kann auf Grund seiner Verautomatisierung von Bedeutung und Sinn ganz abgetrennt werden, dann wird die Sprache ganz mechanisch und leblos. Das Bewußtsein kann sich während solchen Lebens mit Dingen beschäftigen, die gar keine Beziehung zu ihm haben. In gleicher Weise können auch die Gebetsworte abgetrennt werden von ihrem psychischen Inhalt, dann wird das Gebet zur größten Gotteslästerung.

LeerDie orthodoxen Asketen forderten als Ziel die gänzliche Beseitigung oder den „Ausschnitt” der Laute und Vorstellungen aus dem Gebet. Die Vorstellungen werden wie eine Wand, die von der Tiefe des Sinnes trennt, sie lenken die Aufmerksamkeit unserer Gedanken von dem Sinn des Wortes ab. Die Asketen empfehlen deshalb, daß man sich während des Gebetes keine Vorstellung von Gott oder den Heiligen macht. Nur in Fürbittegebeten für die Mitmenschen soll man sich diese vorstellen. Das geistige Gebet unterscheidet sich von den gewöhnlichen menschlichen Gebeten dadurch, daß die Gedanken des Betenden ausschließlich auf den Sinn des Gebetes gerichtet sind. Dann ist es einem künstlerischen Werk verwandt; die Worte sind wie in der Dichtung emotional gesättigt, in ihnen liegt ein Sinn, der nicht unserer Ratio zugänglich ist, sondern nur in der Tiefe der Seele wahrgenommen werden kann. In ihm sind die Erlebnisse des Schöpfers des Gebetes als eines Gliedes der Kirche enthalten, in ihm liegt der Sinn, der gebildet und erlebt wurde von der ganzen Kirche, der geistige Sinn, der in die Nähe Gottes führt. Darum wird das Gebet das „Gespräch” zwischen Gott und dem Menschen genannt, ein Gespräch, in dem die Kirche in jedem Wort atmet. Das bedeuten die Worte des Gregorius Sinait: „Halte deinen Verstand in deinem Herzen.” Unter Herz ist jener tiefe Sinn zu verstehen, den christliche Dichter und Schöpfer von Gebeten darin ausgedrückt haben, und der sich jedem Menschen teils emotional, teils empfindend offenbart. In einem anderen Werke „Erbauung für Hesychasten” (Schweigende) gibt er die Belehrung, wie man ein solches Gebet verwirklichen kann.

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LeerAn erster Stelle fordert er, die Gebetsworte ganz langsam, laut oder in Gedanken zu sprechen - er rät für den Anfang zu beiden Methoden im Wechsel -, dabei soll man bleiben, bis „der Verstand sich festigt im 'geistigen Tun'”; erst dann, sagt er, könne der Mensch richtig beten. Dann bedarf es keiner mit dem Munde gesprochener Worte mehr. Der Betende fühlt im geistigen Gebet eine große Freude. Die langsame Aussprache der Worte ist nötig, damit das Bewußtsein des Betenden erfüllt wird mit dem ganzen Reichtum des Sinngehaltes der Gebetsworte und er sich daran gewöhnt, „den Verstand im Herzen zu bewahren”. Bischof Feofan der Einsiedler schreibt über die Stufen des Gebets (Anm. 2): „Die erste Stufe ist leibliches Gebet, bestehend aus Lesen, Stehen und Neigen. Die Aufmerksamkeit läuft fort, das Herz fühlt nicht, die Luft fehlt. Hier ist Geduld, Ausdauer und Schweiß; aber dessen ungeachtet: verrichte dein Gebet. Dieses ist das tätige Gebet. Die zweite Stufe ist das aufmerksame Gebet: der Verstand ist gewöhnt sich zu sammeln zur Zeit des Gebetes und spricht es aufmerksam, ohne Ablenkung. Die Aufmerksamkeit macht sich die Worte zu eigen. Die dritte Stufe ist das im Herzen erfühlte Gebet: .die Aufmerksamkeit hat das Herz erwärmt, und was vorher in Gedanken war, das wird hier Gefühl. Was dort niederdrückend wirkte, das wird hier zur Niederdrückung (Anm. 3). Wer bis zu diesem Fühlen kommt, der betet ohne Worte, denn Gott ist der Gott des Herzens. Im Gebet Stehen heißt dann von einer Sinnesempfindung zur andern übergehen. Das Lesen der Gebete, ja, das Denken kann aufhören; es bleibt nur Vertiefung in den Sinn mit den Gebärden des Gebetes (Knien, Neigen, Bekreuzigen usw.)... Wenn diese Vertiefung der unaufhörliche Zustand der Seele geworden ist, dann entsteht das geistige Gebet, es ist eine Gabe des Heiligen Geistes, der für uns alle betet. Das ist die letzte Stufe des faßbaren Gebetes.”

LeerDiese Lehre über das Gebet in bezug auf die Konzentrierung der Aufmerksamkeit, Vertiefung der Gedanken in das Herz, Ablehnung der Vorstellungen und der Lauthülle des Wortes, findet sich auch bei anderen russischen Asketen. „Die Seele des Gebetes ist die Aufmerksamkeit” schreibt Bischof Ignatij Brjantschaninow, und „wie der Leib ohne Seele tot ist, so ist das Gebet tot ohne Aufmerksamkeit”. Und weiter: „Während des Gebetes soll man den Verstand bildlos bewahren, das bedeutet, alle Vorstellungen und Bilder, selbst wenn sie mit den Gebetsworten verbunden sind, fern halten. Der Betende steht vor dem unsichtbaren Gott. Jeder Versuch, sich Ihn vorzustellen, errichtet eine undurchsichtige Scheidewand zwischen Gott und dem Beter.” Der hl. Meletius Confessior sagte: 'wer in seinen Gebeten nichts sieht, sieht Gott' (Anm. 4). Die Ikonen sind dem Beter nötig, aber nicht zur Erweckung seiner Phantasie, sondern als richtungweisend für sein Gefühl. Es ist ein großer Unterschied in dem Stehen vor Gott und in dem sich Ihn Ein-bilden. Die Aufmerksamkeit kann man nicht von Anfang an auf das Gebet konzentrieren. sie wird immer durch die gewöhnlichen Erlebnisse abgelenkt werden. 'Die Wellen der Gedanken', so schreibt Johannes Klimax, 'fließen nach verschiedenen Richtungen; sie können nicht mit einem Male unserm Willen gehorchen und von der Oberfläche sich abwendend in die Tiefe sinken' (Anm. 5). Für das Gebet ist eine Vorbereitung nötig. Dazu gehört Einsamkeit, Schweigen und unaufhörliche Wiederholung des Gebetes.

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LeerJedes Gebet kann ein geistiges Gebet werden, aber die Väter des orthodoxen Ostens nannten das Jesusgebet. „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich über uns Sündige” das wichtigste und fruchtbarste. Die ständige Übung dieses Gebetes stärkt die Aufmerksamkeit und führt den Beter zur Rührung bis zum Weinen. Aufmerksamkeit und Weinen gebären einander, geben dem Gebet die Tiefe, öffnen das Herz und machen es rein... Als Frucht solchen Gebetes entsteht das klare Sehen der eigenen Sündhaftigkeit, entsteht auch die Empfindung der Anwesenheit Gottes. Nach längerer Zeit der Übung dieses Gebetes tritt eine innere Stille ein, die Liebe zu Gott und zu allen Menschen, ohne Unterschied ob gut oder böse, die Geduld gegenüber allen Widerwärtigkeiten des Lebens (Anm. 6). Ein solcher Gebetszustand ist keine Ekstase, keine Mystik, sondern Wiedergeburt des Menschen. Die unaufhörliche Wiederholung des Jesusgebetes drängt sich schließlich ganz von selbst auf die Zunge, die Gedanken werden gewissermaßen dem Gebet verhaftet und damit Gott. Das bedeutet 'Stehen vor Gott'.

LeerAlle diese asketischen Übungen verändern im Laufe der Zeit die äußeren Sinne des Menschen und zugleich seine Beziehungen zur Welt und zu seinen Mitmenschen. Seit Plato verbreitete sich in der europäischen Philosophie die Lehre von der Spezialisierung der Sinneswahrnehmungen gemäß der besonderen Struktur jeden Sinnes und die Begrenzung ihrer Reaktion auf die äußeren und materiellen Eigenschaften der Objekte. Von diesem Standpunkt kann der Mensch das psychische Leben nur in sich selbst durch Selbstbeobachtung erkennen. Aber das psychische Leben der anderen würde unbekannt bleiben, weil unzugänglich für Selbstbeobachtung und für die äußeren Sinne. Es könnte nur ganz negiert (Behaviorismus in Amerika) oder nur als Wahrscheinlichkeit erkannt werden (Die Kritik der Theorie des Analogieschlusses bei Th. Lipps) oder man müßte ganz verzichten auf wissenschaftliche Erklärung des fremden psychischen Lebens als eines Welträtsels. Aber keine dieser Theorien kann die moralischen Forderungen des Menschen befriedigen. Die noch heute verbreitete Theorie der Wahrnehmung ist unfähig, nicht nur das Leben der anderen Menschen zu erklären, sondern auch Kunst zu schaffen oder zu verstehen. Als die Freunde Rodins ihn nach der Bedeutung seiner eigenartigen Skulptur Johannes des Täufers fragten, antwortete et ihnen: „Wenn ich alles, wovon meine Seele dabei erfüllt war, in Wortbegriffen hätte ausdrücken können, ich hätte einen Artikel geschrieben, aber ich konnte all meine inneren Erlebnisse nur in der Skulptur ausdrücken; in ihr suchen Sie die Antwort auf Ihre Frage.”

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LeerDas sogenannte „künstlerische Bild”, das die Seele des Künstlers in Wallung bringt, erhält seinen Ausdruck in den künstlerischen Formen, in deren Tiefe es verborgen ist. Zur künstlerischen Wahrnehmung des Wertes gehört nicht nur die Betrachtung der äußeren Formen, sondern in ihnen und durch sie das zu sehen, was in ihrer Tiefe liegt und durch sie hindurchscheint. Bei einer Melodie hört man, streng genommen, nur die hintereinander folgenden Laute, aber in der Tiefe wird die Melodie hörbar. Der Prophet Jesaja sprach davon, daß das Herz des Volkes verstockt werde, da sie „nicht sehen mit ihren Augen und nicht hören mit ihren Ohren” oder, nach russischer Übersetzung, „sehend nicht sehen und hörend nicht hören” (Jes. 6, 10); das bedeutet, daß der Mensch in der „Verstockung” nur die Oberfläche sieht, aber nicht das, was aus der Tiefe hindurchscheint. Diese Herzensverstockung aber ist das Leiden unserer Zeit. Wort Gottes verstehen wir jetzt nur noch als Stimme eines Sprechenden, aber nicht mehr als Offenbarung Gottes der Welt in seinem Sohn. Das Wort des Menschen ist für uns nur noch die Summe der Laute, der Mensch hörte auf, selbst Wort zu sein. Noch können wir das Wort erraten als äußere Darstellung, aber wir verstehen schon nicht mehr die Mimik als Ausdruck inneren Lebens. Das geistige Gebet lenkt den Menschen von der Oberfläche der Welt ab und führt ihn in die Tiefe des Sinnes der Worte; dadurch werden seine Sinne „umgeschult” für die Wahrnehmung der inneren Seite der Welt und sie werden fähig, nicht nur die Darstellung im Wort, sondern auch den Ausdruck in ihm zu erkennen. Hier gewannen die Starzen ihre Fähigkeit des Durch-schauens oder Hell-sehens, besser ihrer prophetischen Schau.

LeerDer ganze Weg, den die bekannten Stargen gegangen waren, ist nichts anderes als „ihr Weg zur Rettung” (Anm. 7). Starez Feofan der Klausner nannte die Beschreibung dieses Weges „Putj ko spasseniju”; es ist eine Anleitung für Suchende. Jetzt kann man verstehen, warum es in der orthodoxen Literatur keine Arbeit über die Vorbereitung zum Starzentum gibt. Um andere retten zu können, muß man selbst gerettet sein; um anderen den Weg zeigen zu können, muß man selbst diesen Weg gegangen sein; um andere in die Kirche, den Leib Christi, einführen zu können, muß man selbst in den Leib Christi eingegangen sein. Darum haben wir von den Starzen nur entweder die Beschreibung ihres eigenen Weges zur Rettung oder ihre Briefe an die Schüler, in denen sie ihnen praktische Ratschläge geben in bezug auf deren individuelle Eigenschaften, Nöte und Schwierigkeiten.

LeerAufgabe dieser Arbeit ist nicht, die Laufbahn zum Starzentum zu beschreiben oder pädagogische Ratschläge zu geben, sondern zu zeigen, daß vom Standpunkt der Orthodoxie die Vorbereitung zum Starzentum nicht wissenschaftlich fundiert werden kann, daß sie vielmehr auf den eigenen Erfahrungen der Starzen beruht, die entsprechend ihrer unmittelbaren Kenntnis der individuellen Eigenschaften ihrer Schüler variiert werden. Solche geistige Führung ist eine Tat des religiösen Lebens.


Anmerkungen:

1: Röm. 8, 22: πασα η κτισις συστεναζει και συνωδινει αχρι του νυν. Συνωδινω-ωδινω-Geburtsschmerz haben, gebären; ωδις-ινος - Geburtsschmerz
2: „Der Weg zur Rettung”, 1894, S. 243.
3: Z. B. „Ich armer elender sündhafter Mensch” ... das wird erst auf dieser Stufe zur Tatsache, während es vorher nur als verurteilungswürdiger Zustand zur Kenntnis genommen und reflektiert wurde.
4: „Klasi” (Die Ähre), Verlag Optina Pustyn, s. Artikel über das Gebet.
5: Paradieses Leiter. Rede 28, Kap. 17.
6: Bischof Ignatij Brentschaninow in „Opitij” (Versuche), S. 166.
7: „Der Weg zur Rettung”, 1894

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 157-164

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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