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Das Starzentum
4. Typen der Starzen
von Iwan Tschetwerikow

1. Westliche Seelsorge und das Starzentum
2. Geschichte des Starzentums
3. Asketische Vorbereitung zum Starzentum

Sergius von Radonesch
Seraphim von Sarow
Leonid u.a.
Feofan der Einsiedler

LeerDas Starzentum ist eine Wegweisung zum Frieden. Es gibt nur einen Weg zur Rettung; das ist ein Grundgedanke der Bibel, trotzdem ist aber in ihr oft von mehreren Wegen die Rede (Ps. 25,4; Jes. 2,3; Micha 4,2; Röm. 11, 33). Ein Weg ist es, weil in allen Menschen - ob bewußt oder unbewußt - das Streben zu dem einen Gott ist, denn obgleich viele Personen, sind sie alle eines Wesens als „von Gott und zu Gott” geschaffen. Die Starzen haben ihre Aufgabe nicht darin, für alle den gleichen Weg aufzuzeigen, sondern in der Variierung des einen Weges entsprechend der Individualität der einzelnen. Es ist unmöglich, den ganzen Reichtum der Weisungen der Starzen zu erfassen, aber es soll versucht werden, an den Grundtypen einen Eindruck davon zu geben.

LeerZuerst muß das Herz von dem Starez erweckt werden, damit „die Ohren hören auf das Wort, das hinter dir her also spricht: Dies ist der Weg, denselben gehet, sonst weder zur Rechten noch zur Linken” (Jes.30, 21). Der Starez geht selbst den Weg, den er seinen Kindern zeigen will. Er ist nicht nur Berater, sondern zugleich Vorbild.

LeerAber er geht „hinterher”, er zieht nicht die Menschen nach sich, er beraubt sie nicht ihres freien Willens, er achtet ihre Individualität; wenn sie folgen, so tun sie es freiwillig, gehorsam und demütig. Hier vereinen sich auf geheimnisvolle Weise Freiheit und Gehorsam. Das ist das Ziel der Arbeit aller Starzen.

LeerGrundlegend unterscheiden sich bei den Starzen vier Gruppen: 1. Die Starzen, die an den Klöstern in erster Linie für die Seelsorge an den Mönchen da waren. 2. Die außerhalb der Klöster an den Laien arbeitenden Starzen. 3. Die Starzen des Klosters Optina Pustyn, die ganz bewußt auf das russische Volk als solches eingestellt waren. 4. Die Starzen, die wegweisend für die der säkularisierten Kultur verfallenen Menschen sein wollten.

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LeerAls bedeutendsten Vertreter der ersten Gruppe kann man den hl. Sergius nennen. Er war der Sohn frommer Eltern und während seines ganzen Lebens ging ein stilles Leuchten von ihm aus. Schon als Kind zeichnete er sich durch Demut und Gehorsam aus. Er litt sehr darunter, daß ihm das Lernen in der Schule schwer fiel; als er diesen Kummer einmal einem vorüberwandernden Mönch sagte, gab ihm dieser ein Stückchen von einer Prosphora mit den Worten: „Nimm und iß, es ist dir gegeben als Zeichen von Gott, daß du durch Seine Gnade die Heilige Schrift verstehen lernen wirst”. Schon mit 15 Jahren wollte er in das Kloster eintreten, fügte sich aber der Bitte seiner Eltern, bis zu ihrem Tode zu warten. Fünf Jahre später, als seine Eltern gestorben waren, verteilte er sein Erbe an seine Geschwister und die Kirche. Dann ging er mit seinem älteren verwitweten Bruder in die Tiefe des Waldes, wo sie eine Kapelle und eine Hütte bauten. Der Bruder verließ ihn, um in ein Kloster einzutreten, er aber blieb jahrelang in tiefster Einsamkeit allein, ein schweres, arbeitsreiches und streng asketisches Leben führend. Wenn er sich auch von dem städtischen Leben ganz gelöst hatte, so fanden doch die Menschen aus der Stadt bald den Weg zu ihm, um in schwierigen Fragen seinen Rat und seine Hilfe zu erbitten. .In den für Rußland kritischen Jahren 1378-1385 traten auch die Fürsten wiederholt ratsuchend an ihn heran. Einmal wurde durch sein Eingreifen ein Krieg zwischen zwei Fürstentümern verhütet, ein anderes Mal segnete er den Fürsten Dmitrij zum Kampf mit den Tataren, den dieser auch glücklich bestand.

LeerDabei ging es dem hl. Sergius nicht in erster Linie darum, das russische Volk vom tatarischen Joch zu befreien, sondern um die Verteidigung des christlichen Glaubens, der durch die Tataren bedroht war. Er beugte sich niemals vor äußerer Macht, Kraft und Reichtum. „Ich wünsche viel mehr zu lernen als zu lehren, viel mehr zu gehorchen als zu befehlen” antwortete er den Mönchen, die ihn baten, ihr Vorsteher (Igumen) im Kloster zu werden. Als ihn Metropolit Alexeij vor seinem Tode bat, sein Nachfolger zu werden, und der Großfürst diese Bitte unterstützte, lehnte er entschieden ab. Er fürchtete die Macht als die größte Versuchung. Sein Kloster bekam viel Geld und Grundstücke geschenkt, aber er ließ alles den armen, den „Kindern des Klosters” zukommen; er und seine Mönche änderten nichts an ihrem Leben der Armut. Bis an sein Lebensende trug er alte geflickte Kleidung und zelebrierte im Talar von grobgewebtem Stoff und mit hölzernen Geräten. Auch die Verrichtung aller schweren Arbeiten gab er nicht auf; so ließ er es sich nicht nehmen, selbst das Wasser für seine Mönche aus dem Tal heraufzutragen und sie mit Brennholz aus dem Walde zu versorgen. Über die Lehre dieses Starez ist nichts bekannt, denn er hat gar nichts Schriftliches hinterlassen. Aber er selbst und sein Leben war „Wort”, von dem ein großer Einfluß nicht nur auf die Mönche, sondern auch auf Bauern, Städter und Fürsten, die zu ihm kamen, ausging. Sein Schüler Paulus Obnorskii (+ 1389) wendete in dem von ihm gegründeten Kloster am Flusse Obnora eine Regel für das mönchische Leben an, mit allen asketischen Übungen, die später als Vorbereitung von den Starzen übernommen wurden. Man kann annehmen, daß es die Übungen aus dem Kloster des hl. Sergius waren und daß dieser der erste russische Starez war. Das Charakteristische in seinem Leben war die demütige Liebe, die auf alle Menschen wirkte, die mit ihm in Berührung kamen; und sie war so kraftvoll, daß sie das niedergebeugte russische Volk wieder aufrichten konnte, so daß es fähig wurde, das tatarische Joch abzuschütteln.

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LeerFür die zweite Gruppe ist besonders typisch der hl. Serafim von Sarow. Nach dem Tode des hl. Sergius erlebte Rußland in seiner Geschichte die zaristische und imperatorische Periode, die eingeleitet wurde von Iwan dem Schrecklichen einerseits und von Peter I. andererseits. Beide wollten die Idee des hl. Joseph Wolololamsk von der „Symphonie” von Staat und Kirche verwirklichen. In dieser „Symphonie” sollte aber die Hauptrolle der Staat spielen, der rücksichtslos sogenannte kirchliche Reformen einführte und die Kirchliche Ordnung im Privatleben des Volkes gewaltsam zerstörte. Dadurch kam es zu einer Spaltung der russischen orthodoxen Kirche und zugleich zu einem tiefen Riß im Volke. Um dem Eingriff in die Freiheit der Gestaltung des persönlichen Lebens zu entgehen, flüchtete ein Zeit des Volkes in die noch unbesiedelten Randgebiete des südlichen Rußlands und führte dort das freie Leben der „Kosaken”. (Damals entstand in der russischen Sprache das Wort „sakasakowatj”, d. i. aus sich einen Kosaken machen.) Im anderen Teil des Volkes bildeten sich Unruheherde, teils politischer Auflehnung, teils ganz intensiver Bemühungen, die Wahrheit des Lebens auf eigenen religiösen Wegen zu suchen. Aus letzteren erwachte das Starzentum zu neuem Leben, das durch Maßnahmen der Regierung Seit dem 16. Jahrhundert fast erstickt worden war. Der bedeutendste Starez dieser Periode war Serafim Sarowskij (1759 - 1833). Er stammte aus einer frommen Familie. Sein Vater war mit der Durchführung von Kirchenbauten beschäftigt. Dieser starb, als sein Sohn Prochor, der als Mönch den Namen Serafim erhielt, erst drei Jahre alt war. Er war schon als Kind sehr religiös und gut begabt. Als er 18 Jahre alt war, gab er seinen kaufmännischen Beruf auf und ließ sich von seiner Mutter für den Mönchsstand segnen. Zunächst wanderte er zu Fuß in das Höhlenkloster Kiew und trat dann auf den Rat eines dortigen Starez in das Kloster zu Sarow ein, das sehr einsam in einem tiefen Walde lag. Hier war er Novize, bis er nach sechs Jahren die Diakonenweihe erhielt. Anschließend blieb er fast ohne Unterbrechung Tag und Nacht betend in der Kirche. 1793 wurde er von Bischof Theophil, dem er als besonders fromm bekannt war, zum Priester geweiht.

LeerEin Jahr nach dem Tode seines Starez zog er, mit Evangelium und Altargeräten zur Zelebration der Messe, mitten im Winter bei hohem Schnee in eine fünf Kilometer vom Kloster entfernte Hütte. Dort blieb er tausend Tage, meist auf steinigem Boden kniend und mit erhobenen Händen betend. Als er einmal von Räubern mit einer Axt blutig und bewußtlos geschlagen wurde, lehnte er jede ärztliche Hilfe ab und blieb fünf Monate in seiner Zelle im Kloster. Dann ging er, in gebeugter Haltung, die er bis an sein Lebensende behielt, auf den Stock gestützt, in seine einsame Hütte zurück. Hier nahm er die asketische Übung des Schweigens auf sich. Er las fleißig in der Heiligen Schrift und in religiösen Büchern und tat es meist stehend vor den Ikonen und sehr langsam mit lauter Stimme. Oft hielt er versunken inne, um die Tiefe des Sinnes zu erfassen. Seine späteren Gespräche waren ganz geboren aus dem Geiste des Evangeliums und umrankt mit Zitaten aus der Heiligen Schrift, wie der Zaun vom Epheu. Diese Übungen in Einsamkeit, Schweigen und Gebet führte der Heilige 25 Jahre durch. Dann erschien ihm die Gottesmutter und befahl ihm, die Einsamkeit zu verlassen und den Menschen zu dienen. Damit begann sein Starzentum. Er war ganz erfüllt von Liebe zu den Menschen; aber seine Liebe hatte zwei Seiten. Den armen, leidenden und schwachen Menschen neigte er sich zu in Güte und erbarmender Liebe. Alle nannte er „meine Freude” oder „meine Freunde in Gott” und jeden empfing er mit dem österlichen Gruß „Christus ist auferstanden”. Aber ihm war auch die tragische Seite der Liebe eigen. Gott übergab seinen geliebten Sohn der Bosheit der Menschen und duldete, daß er gequält und ans Kreuz geschlagen wurde. (Anm. 1) Solche Liebe übte Starez Serafim denen gegenüber, die die religiöse Kraft und das Verlangen zu einem Leben der Vollkommenheit hatten.

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LeerZwei solcher, zunächst unverständlich erscheinender Fälle sind uns bekannt geworden. Die Schwester des von dem Starez geheilten Gutsbesitzers Manturow, Ellen, war in das Kloster Diweewo eingetreten. Eines Tages rief sie der Starez zu sich und sagte zu ihr: „Du meine Freude warst mir immer gehorsam. Ich will dir noch einen Dienst des Gehorsams auferlegen. Ich weiß, daß Dein Bruder krank ist und die Zeit seines Sterbens naht, aber er ist nötig für unser Kloster; darum gebe ich dir den Auftrag, an seiner Stelle zu sterben.” „Segne mich, Väterchen, zum Sterben” bat die Nonne. Der Starez segnete sie und sprach über das ewige Leben. Plötzlich unterbrach ihn Ellen: „Väterchen, ich fürchte mich zu sterben.” „Meine Freude, warum fürchtest du dich? Das Sterben ist Freude für uns” war seine Antwort. Als Ellen den Rückweg antreten wollte, fiel sie bewußtlos an der Schwelle der Hütte nieder. Der Starez besprengte sie mit Weihwasser und sie kam wieder zu sich. aber im Kloster angekommen, wurde sie krank. Sie erzählte der Äbtissin von dem Gespräch mit dem Starez. Nach kurzer Krankheit starb sie im Alter von 34 Jahren. Das war Gehorsam bis zum Tode, der nur von Menschen mit einem starken Willen gefordert werden kann.

LeerAuf einer gußeisernen Platte an der Wand gegenüber dem Altar in der Kirche des Klosters Diweewo ist zu lesen: „Pelagia Serebrennikowa geb. Surina verließ nach dem Segen des Priestermönches Serafim im Gehorsam alles Glück des irdischen Lebens - ihren Mann, ihre Kinder - und nahm auf sich die asketische Übung der Torheit, Verfolgung und Schläge und ließ sich an die Kette legen für Christus. Geboren im Jahre 1809, im Kloster 47 Jahre gelebt und am 3. Januar 1884 zu Gott gerufen im Alter von 75 Jahren”.
Und weiter unten: „Des Klosters der Heiligen Dreieinigkeit zu Diweewo Serafim des Serafims (Anm. 2), die selige Pelagia”. Es handelt sich hier um die Tochter eines reichen Kaufmanns. Eines Tages wurde das kluge, lebensprühende Kind krank, und am andern Morgen zeigte es ein vollkommen verändertes, ganz törichtes Gebaren, das sich nicht wider verlor. Als das Mädchen erwachsen war, wurde es gegen seinen Willen von seiner Mutter an einen Kaufmann verheiratet. Nach ihrer Trauung reiste die junge Braut nach Sarow zu Starez Serafim, der viele Stunden unter vier Augen mit ihr redete und ihr, wie jedem seiner Besucher, beim Abschied etwas schenkte. Über das Gespräch erfuhr niemand etwas. Man kann annehmen, daß der Starez sie segnete für das schwere asketische Leben der Torheit. Danach lag Pelagia tage- und nächtelang auf den Knien im Jesusgebet, aber nach einiger Zeit fing wieder ihr törichtes Verhalten an. Ihr Mann versuchte mit gütigem Zureden auf sie einzuwirken, schlug sie schließlich und kettete sie an, aber nichts änderte ihr Wesen. Nach einigen Jahren brachte er sie zu ihrer Mutter, die sie zuerst mit Güte, dann mit großer Strenge behandelte, aber erfolglos. Schließlich reiste sie mit Pelagia zu Starez Serafim und berichtete ihm von allen erfolglosen Maßnahmen an ihrer Tochter. Er aber drohte ihr Gottes Strafe an und verbot ihr, sie zu züchtigen oder in ihrer Freiheit zu beschränken. Vier Jahre nach dem Tode des Starez zog Pelagia auf die Einladung einer Nonne in das Kloster Diweewo und blieb dort bis zu ihrem Tode. Aber auch hier änderte sich ihr törichtes Verhalten nicht, obgleich sie sehr streng behandelt wurde. Den größten Teil des Tages verbrachte sie, das Jesusgebet sprechend, in einer Grube, die sie selbst ausgegraben hatte. Sommer und Winter ging sie barfuß, stand auf Nägeln, ihre Füße verwundend, und nahm sehr selten Wasser und Brot zu sich. Sie war eine sehr starke russische Natur und kannte keine Grenzen in freiwilliger Qual.

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LeerEs gibt Menschen mit einem zwiespältigen Wesen; sie können beten und zugleich in dem Leben „dieser Welt” verbleiben, ohne den Kampf mit ihr aufzunehmen. Einen besonderen Weg der Befreiung von „dieser Welt” wählen die Toren in Christo: den aktiven Kampf mit ihr, ihre aktuelle Verneinung. Ihr Leben wird zur tragischen Szene, die sie spielen für „diese Welt”, die von ihnen verlacht wird bis zur absurd geführten Darstellung in ihrem eigenen Leben. Aber ist das der Weg Christi? Wenn wir die letzten Tage seines irdischen Lebens betrachten - seinen Einzug in Jerusalem, auf der Eselin, die von dem unbekannten Besitzer geholt und mit armseligen Kleidern bedeckt wurde, die Begleitung der Kinder und des gemeinen Volkes unter den Schreien „Hosanna, dem Sohne Davids” - und wenn wir den letzten Moment nehmen - die Inschrift über dem Haupte des gekreuzigten Gottessohnes -, ist das nicht alles Torheit in den Augen „dieser Welt”? Und ist es nicht zugleich die Liebe Gottes, die seinem Sohne die Qualen der Torheit auferlegt? Die Inschrift auf der gußeisernen Platte „Serafim des Serafims” zeigt die Torheit dieser beiden erschreckend in unseren Augen. Der hl. Serafim ist ein eigenartiger Starez mit seinen zwei Gesichtern: der rührend Liebende dem Schwachen gegenüber und der unerbittlich Strenge gegen den Starken, der von ganzer Seele das neue Leben sucht. In den Lebensbildern von ihm wird gewöhnlich nur die erste Seite an ihm beschrieben, aber gerade in dieser zwiefachen Art seiner Beziehungen zu den Menschen besteht die Eigenartigkeit seines Starzentums.

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LeerDer erste der bedeutenden Starzen der dritten Gruppe war a) Leonid. Seine Vorbereitung zum Starzentum begann schon in früher Jugend Durch die besondere Führung Gottes. Von seinem 20. Lebensjahr an fuhr er als Kaufmannsgehilfe in die Dörfer und Kleinstädte Mittelrußlands, um die Waren an die Händler zu verteilen. Auf diesen Fahrten traf er oft stundenlang mit keinem Menschen zusammen und war in der Einsamkeit viel in sich selbst versunken. Ihm selbst noch unbewußt fingen hier seine Übungen im Schweigen an. Die fruchtbaren Felder und tiefen Wälder wurden ihm zum Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen. Seine geschäftlichen Beziehungen brachten ihn in enge Verbindung mit den Händlern, die er größtenteils als gewinnsüchtig und unehrlich kennen lernte. In ihnen eröffnete sich ihm die sündige Seite der Seele auf den verschiedenen Stufen. Sonnabends und Sonntags besuchte er regelmäßig die Abend- und Morgengottesdienste an den Orten, an denen er gerade war. Dichtgedrängt standen die Kleinbürger in den Kirchen der Städte und in den Dorfkirchen die Bauern. Und hier beobachtete Leonid die andere Seite der menschlichen Seele, wenn die Gläubigen in großer Andacht, im Bewußtsein ihrer inneren Unwürdigkeit vor den Ikonen knieten mit dem inbrünstigen Bußgebet „Herr, erbarme dich”.

LeerDiese wechselnden Erfahrungen riefen in ihm quälende Gedanken wach über das Schicksal der Seele, in die er während seiner zehnjährigen kaufmännischen Tätigkeit tiefe Einblick gewann, und ließen den Entschluß für das mönchische Leben in ihm reifen. Er suchte ein Kloster mit strengen asketischen Übungen und entschied sich für Optina Pustyn. Dort blieb er bis zu seinem Tode (1841). Er wurde Starez für das Volk der Kleinbürger und Bauern, deren Lebensverhältnisse er kennen gelernt hatte, deren Sprache er verstand und die er besonders liebte. Trotz seines strengen Aussehens und aller Strenge gegen sich selbst war er den sündigen Menschen in großer Güte zugetan. In ihren Sünden sah er ihre Krankheit, die nicht Strafen, sondern nur Liebe heilen konnte. Ein Beispiel dafür, wie das einfache Volk an ihm hing, finden wir in einem Bericht des Archimandrit Leonid, der, als er noch Offizier der Garde war, einmal Optina Pustyn besucht hatte: „Auf meiner Rückkehr von Optina Pustyn rastete ich in einem kleinen Dörfchen in der Nähe von Koselsk. Als die Bauern erfuhren, daß ich in Optina Pustyn war, umringten sie mich sogleich und fragten, eifrig durcheinander sprechend, nach dem Starez Leonid. Auf meine verwunderte Frage, woher sie ihn kennten, antworteten sie mir: ‚Wie sollten wir Väterchen Leonid nicht kennen? Er ist für uns Arme und Unwissende wie ein Vater, ohne ihn wären wir ganz verwaist’”. Das Volk kannte ihm, weil er für das Volk da war und es seine helfende Liebe vielfach erfahren hatte.

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Leerb) Die Starzen für die gebildete Schicht des russischen Volkes sahen ihre Aufgabe darin, die atheistische Welle, die immer mehr die russische Kultur umspülte, aufzuhalten. Starez Makarij in Optina Pustyn wollte ihr ganz bewußt die christliche Kultur entgegensetzen. Er war weniger bekannt im Volke, aber um so mehr unter Professoren, Gelehrten und Schriftstellern. Zu seiner Zeit (+ 1860) wurde Optina Pustyn zu einer kleinen starken Festung im Kampf um die russische Seele, und in der Zelle des Starez sammelte sich gewissermaßen der Generalstab. Hier waren viele religiöse Bücher und Handschriften angesammelt (hauptsächlich solche aus dem Moldau-Kloster des Paisij Welitschkowskij); hier diskutierte man die Fragen der Übersetzung bestimmter griechischer Terminen; hier plante man die Herausgabe der übersetzten Bücher (die durch Regierungsverordnungen außerordentlich erschwert wurde) und ihre Verbreitung durch Studenten und Mönche. Die Zelle des Starez war aber zugleich das Sprechzimmer für Heilung und Rat suchende Kulturmenschen, die der Kirche entfremdet waren und durch Makarij einen neuen Zugang zu ihr fanden (Kliment Söderholm, Leontjew u. a.). Durch den großen Briefwechsel mit Menschen, die niemals den Starez gesehen hatten, und mit den Klöstern, besonders den Nonnenklöstern, gingen die Fäden durch ganz Rußland. Der bedeutendste russische Schriftsteller der christlichen Philosophie, Kireewskij, der früher ein Anhänger von Hegel war, schrieb einmal: „Viel wichtiger als alle Bücher und die besten Gedanken ist es, einen orthodoxen Starez zu finden, dem man alle seine Gedanken beichten kann und von dem man nicht die eigene Meinung hört, sondern die Beurteilung der hl. Väter. Solche Starzen sind, Gott sei Dank, noch nicht ausgestorben in Rußland.” Auf seinen Wunsch wurden in seine Grabplatte die Worte eingemeißelt: „Ich liebte die Weisheit und strebte von meiner Jugend an nach ihr, aber ich erkannte, daß man sie nicht aus den Büchern erfassen kann, sondern nur durch die Gnade Gottes, und darum bin ich zu Gott gegangen.” Diese Worte charakterisieren nicht nur das geistige Leben dieses russischen Gelehrten, der einen verwickelten Weg von Hegels und Schellings Auditorien bis zur Zelle des Starez gegangen war, sondern sie beleuchten auch die Bedeutung der Starzen in der russischen Kultur.

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Leerc) Starez Ambrosij (1812-91) fühlte mit seinem empfindsamen Ohr und mit seinem durchdringenden Blick schon lange vorher das über Rußland heraufziehende Gewitter (Revolution 1917). Es befriedigte ihn deshalb nicht, die Arbeit des Starez Leonid oder seines Lehrers Makarij einfach weiterzuführen; er sah seine Aufgabe vielmehr darin, das russische Volk auf dieses schreckliche Ungewitter vorzubereiten und es zu befähigen, der Gefahr entgegenzutreten und sie mit dem Mut des Glaubens zu bekämpfen. In dieser Vorausschau konzentrierte er seine Aufmerksamkeit - wie lange vor ihm schon Serafim von Sarow - auf die russische Frau. Ebenso wie dieser baute er ein Nonnenkloster (Schamardino). Beide hatten sich in großer Sorge der geistigen Erziehung der Frau gewidmet. Das war keine zufällige Erscheinung, sondern die Erkenntnis der großen Bedeutung der Frau im Kampfe mit dem Materialismus und dem Atheismus. Von der Renaissance an wurde die Welt mehr und mehr der Führung des Verstandes untergeordnet und ihre qualitative Weite und ihre Tiefe wurden übersehen. Hier ist die Quelle des Materialismus und Atheismus, dieser prometheischen und männlichen Kultur. Der Widerstand gegen sie bewahrte sich nur in der Seele der Frau, in der die Fähigkeit zum intensiven und tiefen Aufnehmen des Seins nicht verloren ging. Nicht umsonst stellten die Marxisten die Frauenfrage und -emanzipation in den Vordergrund ihrer Propaganda. Alle ihre Bemühungen waren darauf gerichtet, die natürliche Innerlichkeit der Frau zu ersticken und ihre Seele in eine männliche zu verwandeln. In ihrer Vorausschau erkannten die Starzen, daß es außer der Umerziehung des Verstandes (Hauptziel des Starez Makarij) nötig ist, durch die Erweckung der Fähigkeit zur Vertiefung in sich und durch das Gebet (Arbeit der Starzen Serafim von Sarow, Makarij und Ambrosij) die Seele der Frau zu bewahren und zu pflegen. Wie ausschlaggebend das Herz der Frau ist, wird deutlich an dem Beispiel der Frau des Gelehrten Kireewskij, die ihren Mann von dem Einfluß Hegels und Schellings unter den des hl. Ephraim Syrien führte. Starez Ambrosij sah ganz klar voraus, welche Rolle der Frau in der Rettung der Welt, und insbesondere Rußlands, aus der Dunkelheit zukommt.

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LeerZur vierten Gruppe gehört vornehmlich Bischof Feofan Klausner von Wyschen. Als Sohn eines Dorfpriesters im Gouvernement Orel erhielt er die in diesem Stande gewöhnliche Ausbildung eines Priesters. Aber der begabte Jüngling strebte weiter und absolvierte noch die Geistliche Akademie in Kiew. Dort fiel er von Anfang an durch sein gütiges, sanftmütiges Wesen, aber zugleich auch durch seine große Schüchternheit auf. Noch vor dem Abschluß seiner Studien wurde er Mönch. Nach der Beendigung seines Studiums nahm sein Leben den gewöhnlichen Verlauf der akademisch gebildeten Mönche, er wurde Lehrer an einem Seminar und dann Professor an der Akademie, aber die Lehrtätigkeit war ihm nach seinen eigenen Worten „unerträglich schwer”. Nicht das abstrakte, sondern das konkrete Leben zog ihn an. Auf seine Bitte hin bekam er die Erlaubnis zu einer Palästinareise; er blieb dort in der Missionsarbeit sieben Jahre. Nach seiner Rückkehr wurde er Rektor des Seminars in Olonezk, weiter Vorsteher der Gesandtenkirche in Konstantinopel und schließlich Rektor der Akademie in Petersburg. Wieder befand er sich also in der ihm „unerträglich schweren Arbeit”. Alle diese Dienstaufträge folgten in schnellem Wechsel. Im Jahre 1863 wurde er im Alter von 48 Jahren Bischof von Tambow; und vier Jahre später wurde er als Bischof nach Wladimir versetzt. Die Unstetigteit seiner Arbeit veranlaßte ihn zu einer Bitte an die Synode, um die Erlaubnis, in das Wischinskaja Pustyn als einfacher Mönch eintreten zu dürfen. „Ich habe den Wunsch, der Kirche zu dienen, aber in meiner Art”, sagte er damals.

Leer„Sechs Jahre”, so berichtet ein Augenzeuge, „gab er sich inbrünstig dem Gebet hin, er besuchte alle Gottesdienste wie ein gewöhnlicher Mönch, während der Gottesdienste stand er aufrecht wie ein Krieger, mit geschlossenen Augen.” 1872 brach er alle persönlichen Beziehungen zu den Menschen ab und schloß sich in seine Zelle ein; so verharrte er bis an sein Lebensende. Seine Schüchternheit ließ den Entschluß in ihm reifen, nur noch im Briefwechsel mit den Menschen zu verkehren. Die Säkularisation, der Materialismus und der Sozialismus waren zu dieser Zeit schon in Rußland eingedrungen und Feofan war zu der Erkenntnis gekommen, daß die Intellektuellen einer besonderen Seelsorge bedürfen. Sie waren nicht mehr der einfachen, von Herzen kommenden Führung zugänglich wie das Volk; ihnen mußte stufenweise und systematisch klargemacht werden, was Sünde ist, und daß es gilt, den Kampf mit ihr aufzunehmen. Feofan war durch seine wechselnde berufliche Tätigkeit in verschiedenen Teilen Rußlands besonders unter den Gebildeten bekannt geworden, und so kam er mit vielen von ihnen in Briefwechsel, den er zu ihrer geistlichen Führung benutzen wollte. Seine Briefe tragen einen systematischen Charakter, ohne daß darin Zugeständnisse an den Rationalismus gemacht wurden. Feofan versuchte vielmehr, die Menschen zur Überwindung des Rationalismus zu führen, immer die Bedeutung des inneren Lebens betonend.

LeerSeine ethischen Beratungen stellen gewissermaßen eine Stufenleiter dar, die von den einfachsten Aufgaben zu den kompliziertesten führt, entsprechend der Individualität seiner geistlichen Kinder. Aber solche Differenzierung ist bei ihm nur Methode, nicht das letzte Ziel seiner geistlichen Führung. Indem er ihre Individualität unterstreicht, will er die Menschen vor dem Absinken in die Masse bewahren. Der systematische Charakter und die Konsequenz seiner Wegweisung in seinen Briefen machten diese für bestimmte Empfänger zu einem geschlossenen Ganzen. Ihm gaben sie das Material für seine Werke („Weg zur Rettung”, „Briefe über das christliche Leben” u. a.), in denen er nicht nur den Weg zur Rettung, sondern diesen in allen möglichen Variationen zeigte. Wenn auch seine Methode eine andere war, so führte er doch die religiöse Arbeit des Paisij Welitschkowskij und der Starzen in Optina Pustyn auf seine Weise fort.

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LeerDas Ziel des Starzentums war es nicht - und auch das der heutigen Seelsorge sollte es nicht sein -, einzelne Seelendefekte des Menschen zu heilen, sondern ihm zu seiner vollkommenen Umwandlung zu helfen. Diese muß in seinem Innersten beginnen, indem er dem göttlichen Geist in sich Gehör schenkt, seine Seele ihm unterordnet und seinen Leib der Seele. So vollzieht sich des Menschen Wiedergeburt. Sie gründet sich auf Tod und Auferstehung Christi, und nur auf diesem Grund kann der Mensch mit einem gestörten Seelenleben seine Rettung bauen. Er bedarf dabei der Hilfe und Führung derer, die selbst diesen Weg gegangen find. Darum sagte auch der hl. Serafim von Sarow: „Rette zuerst dich selbst, dann werden neben dir viele gerettet.”

1: Diese Seite der Liebe veranlaßte Raphael zu dem Versuch, in der Sixtinischen Madonna die Tragik der Liebe darzustellen: die Mutter Gottes trägt ihren Sohn, den sie liebt, ganz bewußt hinein in die Bosheit der Welt.
2: Seraphim = der Brennende. Pelagia war entbrannt von dem Wunsche, aus Liebe für Gott zu leiden. In diesem Sinne wurde sie als das geistige Kind des Starez Serafim angesehen.
3: Wie kann man das Leben des heiligen Franz von Assisi verstehen, der sich berufen fühlte, ein neuer Narr in der Welt zu sein? Solche Narrheit ist ein Geheimnis der Transsubstantiation des Menschen, der die gottlose Welt negiert, weil er von Gottes Liebe entbrannt ist. (Über die Torheit des Franz von Assisi s. bei Walter Nigg: „Große Heilige”, S. 31-87.)

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 188-197

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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