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Ostern und die Oikumene
von Erich Müller-Gangloff

LeerDie nächste große ökumenische Weltkonferenz, die im Sommer dieses Jahres in Evanston stattfindet, steht unter dem Thema: Christus, die Hoffnung der Welt. Die für die Vorbereitung der Konferenz verantwortlichen Theologen haben lange und erbittert darum gestritten, ob man nicht um der Unmißverständlichkeit willen sagen müßte: der gekreuzigte und auferstandene Christus, da nur dieser eine Hoffnung für die Welt verbürge. Wie immer man diese Auseinandersetzungen und ihr Ergebnis werten oder deuten möge, sie weisen auf jeden Fall einmal mehr darauf hin, in welchem engen und unauflöslichen Zusammenhang alles Streben nach der Einheit der Kirche mit dem Osterereignis steht.

LeerDie Kirche hat das, soweit sie sich als Leib Christi und somit als ein Ganzes verstand, eigentlich immer gewußt und nur unter dem Einfluß zeitweiliger Bewußtseinstrübungen vergessen. Daher hatte das Osterfest schon von früh an eine zentrale Stellung im Festkalender der Kirche: alle beweglichen Festtage im Kirchenjahr richten sich nach dem Osterdatum, dessen Fixierung allerdings in der frühesten Christenheit umstritten war. Erst das Konzil von Nizäa beendete den langwierigen Passah- oder Osterstreit, indem die römische Sitte, den Todestag Christi und den Tag der Auferstehung zu begehen, über den von den kleinasiatischen Christen fortgeführten älteren judenchristlichen Brauch siegte, am 14. Nisan zugleich mit dem jüdischen Passah das Gedächtnis des letzten Mahles Christi zu feiern. [Anm: Dennoch feierten die Christen erst im Jahr 2001 das erste Mal seit mehr als 1000 Jahren wieder gemeinsam Ostern - zwar wird der Ostertermin nach den gleichen Regeln berechnet, die orthodoxen Kirchen haben aber die gregorianische Kalenderreform nicht übernommen und haben daher ein anderes Datum für den Frühlingsanfang als die westlichen Kirchen]

LeerNachdem diese Lösung von einer allzu engen Verhaftung mit dem judenchristlichen Ursprung einmal erfolgt war, ist der besondere Rang des Festes der Auferstehung Christi eigentlich nie mehr im Ernst bestritten oder angefochten worden. Ein Drittel des Kirchenjahres steht unmittelbar im Zeichen des Osterfestes: auf die siebzigtägige Vorbereitungszeit von Fasten und Vorfasten von Septuagesimä an folgt die fünfzigtägige österliche Freudenzeit bis Pentekoste-Pfingsten. Und in der Alten Kirche wurde das Osterfest selber bis ins elfte Jahrhundert hinein acht Tage lang gefeiert.

LeerAls diese Feier auf drei und später zwei Festtage schrumpfte, erhielt die Woche vor Ostern ein noch stärkeres Gewicht, als ihr als dem Höhepunkt der vierzigtägigen Fastenzeit ohnehin zukam. Die Oster- oder Karwoche, auch Schwarze und Stille Woche, Marterwoche und Trauerwoche genannt (althochdeutsch chara bedeutet Trauer und Klage) wurde zur „Großen Woche” des Kirchenjahrs, und die einzelnen Tage dieser Woche, insbesondere Gründonnerstag, Karfreitag und der Große Sabbat oder Osterabend gelangten zu einer neuen und erhöhten Bedeutung.

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LeerDieser Vorgang geht merkwürdigerweise mit der ebenfalls im elften Jahrhundert beginnenden Aufspaltung der Christenheit in mehrere große Konfessionen überein. Die Kirche von Rom, die einst gegen die morgenländischen und Judenchristen den Vorrang der Auferstehung vor dem Passahmahl verfocht, beginnt sich mehr und mehr als Kirche des Altarsakraments zu begreifen, dem sie, da Gründonnerstag zu sehr im Schatten des Osterfestes steht, mit Fronleichnam ein eigenes, bald viele andere überstrahlendes Fest widmet. Sie versteht sich selber (nach einer Formulierung Wilhelm Stählins) als die große Monstranz, in der der in der Hostie leibhaftig gegenwärtige Christus bewahrt und vorgezeigt wird.

LeerDie mit dem Schisma von 1054 endgültig von der abendländischen abgespaltene Ostkirche wendet sich besonders dem Thema des Karsamstags, der Höllenfahrt Christi, zu: auf den Ikonen des Ostens bildet nicht eigentlich die Auferstehung, sondern Christi Abstieg in die Hölle, durch den deren Riegel gesprengt und ihre Grüfte geleert werden, den vorherrschenden Gegenstand für die Darstellung des Osterwunders. Die ostkirchliche Feier der Osternacht enthält nicht weniger als 170 Meditationen über das Höllenfahrtsthema, das damit fast die Auferstehung zu verdunkeln droht.

LeerDie Kirche der Reformation aber hat schließlich, an eine mindestens bis zu Bernhard von Clairvaux zurückführende Überlieferung anschließend, das Kreuz und den Karfreitag in die Mitte ihres Denkens und Betens gestellt. Allerdings ist hier sogleich hinzuzusagen, daß die bernhardinische Kreuzesmystik erst durch die Lieder Paul Gerhardts zum vorherrschenden Frömmigkeitstypus im Protestantismus wurde, während die Reformatoren keine eigentlichen Passionslieder gedichtet haben.

LeerEs hieße der konfessionellen Aufspaltung der Christenheit Vorschub leisten statt ihr zu begegnen, wenn man sie als Kirchen des Gründonnerstags, des Karfreitags und des Sabbatus Sanctus unverbunden nebeneinander und damit gegeneinander stellte. Das kann nur im gemeinsamen Blick auf das Fest der Auferstehung geschehen, auf das alle Tage der Osterwoche und vornehmlich die drei letzten unausweichlich hinweisen. In diesem Sinne wollen die nachfolgenden Aufsätze verstanden werden, die von einem römisch-katholischen, einem kritisch-protestantischen und einem der Ostkirche durch Zuneigung und Liebe verbundenen Autor erbeten und geschrieben wurden.

LeerDarüber hinaus ist es aber vielleicht erlaubt, die Kirche von Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag im historischen Nacheinander zu betrachten, das ein Miteinander zum mindesten als Möglichkeit einschließt. Nicht daß wir die Kirchen- oder gar die Heilsgeschichte in ein Zeitalter der römischen, der protestantischen und der orthodoxen Kirche einteilen wollten, wie es durch bemerkenswerte und geistvolle Denker geschehen ist, die von der Aufeinanderfolge eines petrinischen, eines paulinischen und eines johanneischen Zeitalters sprachen. So groß die Versuchung wäre, an derartige Gedanken anzuknüpfen, die bis zu Joachim von Floris zurückführen, so sei dies hier doch ausdrücklich unterlassen. Es soll lediglich - was allerdings nicht minder gewagt ist - der Versuch unternommen werden, eine Bestimmung unseres eigenen Ortes im Strome der Zeit vorzunehmen. Nachdem von berufener Seite das „Ende der Neuzeit” konstatiert worden ist, liegen derartige Versuche nahe und drängen sich uns beinahe auf.

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LeerWenn wir die Geschichte als zur Auferstehung hinführend im Bilde der Osterwoche begreifen dürfen, so könnte man das Mittelalter als ein Zeitalter des Gründonnerstags und der leiblichen Kirche und die Neuzeit als Zeitalter des Karfreitags und der gekreuzigten Kirche betrachten, denen heute ein Zeitalter des Osterabends und der Höllenfahrt folgt.

LeerEs soll damit weder einem modischen Kulturpessimismus noch gar einer Romantisierung des Mittelalters das Wort gesprochen werden. Man muß das Mittelalter durchaus nicht romantisch ansehen, um einen Begriff davon zu haben, in welch einzigartiger Weise der Christenglaube in dieser Zeit verleiblicht und Gestalt geworden ist. Kein Geringerer als Karl Barth hat diese Zeit im Gleichnis eines neuen und besonderen Gottesbundes gesehen: „Es sollte die Zeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft nicht einfach leer sein, nicht ohne ein großes Gleichnis der ewigen, der kommenden Welt . . . Es durften Natur und Gnade, Staat und Kirche vereinigt werden wie unter dem Bogen eines zweiten noachidischen Bundes”. Vielleicht darf man, diesen Gedanken fortführend, wie man im alten Israel den noachidischen, den abrahamitischen und den davidischen Bund unterscheidet, im Mittelalter von der Aufeinanderfolge eines konstantinischen, eines karolingischen und eines ghibellinischen Bundes sprechen.

LeerWenn man dem so gekennzeichneten Mittelalter die Neuzeit als das Zeitalter des Kreuzes gegenüberstellt, so muß dazu gesagt werden, daß die Neuzeit in diesem Verstande bereits im Jahre 1077 mit dem Ereignis von Canossa begann, mit dem der Gottesbund des Mittelalters seinen ersten, dann immer weiter aufklaffenden Riß erhielt. Auch gab es im späten Mittelalter schon lange vor Luther eine tiefe Kreuzesmystik, die in bemerkenswerten Bildwerken einen oft überwältigenden Ausdruck fand. Und wenn wir vom Zeitalter der gekreuzigten Kirche sprechen, so denken wir nicht zuletzt an das Kreuz der Glaubensspaltung, die die Kirche Jesu Christi seit 1054 in zwei und seit 1517 in drei große Konfessionen schied. Die Neuzeit selber aber brachte in den Jahrhunderten von Aufklärung und Idealismus das Kreuz der Entleiblichung hinzu, die die Kirche von innen aushöhlte und verzehrte.

LeerEugen Rosenstock hat in seinen „Europäischen Revolutionen” von dem zweiten Jahrtausend der Christenheit als einem Zeitalter des Fegefeuers gesprochen, ohne darum das erste etwa ausdrücklich dem Himmel und das vor uns stehende dritte der Hölle zuordnen zu wollen. Aber daß dieses Zeitalter, zumal für die Kirche, eines der Höllenfahrt sein könnte, dafür fehlt es leider nicht an sichtbaren Anzeichen. Ob wir an die Konvulsionen einer selbstherrlich gewordenen Technik, ob wir an die sozialen und politischen Ersatzreligionen, ob wir an den vielzitierten Massenmenschen denken, der wir ja allesamt viel zu sehr selber sind, als daß wir pharisäisch von ihm daherreden dürften - die Zeichen dieser „Jüngsten Zeit”. wenn wir sie so benennen dürfen, sind so überaus deutlich, daß kein verantwortlich Denkender an ihnen vorbeisehen kann.

LeerAber es scheint uns zugleich, daß gerade für die Christen heute weniger denn je Anlaß zum Schwarzsehen und zum Pessimismus bestünde. Denn sie sind ja nicht in eine ihrer selbst sichere, sondern in eine verlorene Welt gesandt. Und ihnen ist verheißen, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden. Sie glauben nicht allein an einen Herrn, der für sie gekreuzigt wurde und zur Hölle fuhr und im Sakrament bei ihnen ist, sondern an einen, der zugleich auferstanden ist und als der Auferstandene kommen wird. Daher können sie durch den Gründonnerstag und Karfreitag und -Samstag der Welt hindurch voller Zuversicht und Hoffnung auf das große Ostern hin leben.

LeerSie werden es allerdings schwerlich als verlorene Einzelne können und auch kaum als „Kirchen” oder Konfessionen, sofern sich diese nicht als Glieder an dem einen Leibe Christ! begreifen und bekennen. Denn wenn es wirklich eine Höllenfahrt gilt, dann wird sie weder von einer triumphierenden noch von einer gespaltenen, weder von einer Massen- noch von einer Sektenkirche bestanden werden können, sondern nur von jener wahren Ökumene, deren Aufspaltung vor nunmehr tausend Jahren als ein nach verschiedenen Richtungen gehender Abfall vom Feste der Auferstehung des Herrn begann.

Quatember 1954, S. 65-68

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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